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Roter Oktober, warum welkst du denn schon?

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Wer die Pensionsreife der Oktoberrevolution in passender Verbundenheit würdigen möchte, wird die richtige Einstimmung so recht nicht finden, wenn er nur ein wenig von dem wiederliest, was zum 50. Jubiläum des Roten Oktober mehr an Jubel- als an kritischen Bekundungen geschrieben worden ist und sich bald nur noch mit Tonnen verbrauchten Papiers qualifizieren ließ. Vor zehn Jahren mochte es so scheinen, daß die neuen Männer im Kreml nach der Abhalfte- rung von „knock-about” Chruschtschow und nach dem Debakel der Araber im Sechstagekrieg innen- und außenpolitisch auf Konsolidierung, Beständigkeit und Vertrauenswürdigkeit aus seien - mit erneuerter Repression zwar, den ersten Schriftstellerprozessen, aber doch „koexistenz”-willig, mit Orientierung auf das Know-how und andere Entwicklungshilfen des Westens.

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Wer die Pensionsreife der Oktoberrevolution in passender Verbundenheit würdigen möchte, wird die richtige Einstimmung so recht nicht finden, wenn er nur ein wenig von dem wiederliest, was zum 50. Jubiläum des Roten Oktober mehr an Jubel- als an kritischen Bekundungen geschrieben worden ist und sich bald nur noch mit Tonnen verbrauchten Papiers qualifizieren ließ. Vor zehn Jahren mochte es so scheinen, daß die neuen Männer im Kreml nach der Abhalfte- rung von „knock-about” Chruschtschow und nach dem Debakel der Araber im Sechstagekrieg innen- und außenpolitisch auf Konsolidierung, Beständigkeit und Vertrauenswürdigkeit aus seien - mit erneuerter Repression zwar, den ersten Schriftstellerprozessen, aber doch „koexistenz”-willig, mit Orientierung auf das Know-how und andere Entwicklungshilfen des Westens.

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Noch am 8. Dezember 1967 meinte Breschnjew in Prag sagen zu können, daß die Ablösung Nototnys Sache der Tschechen und Slowaken sei. Zum Jubiläum waren 1967 der Rückblick und die Prognose für die Propaganda und eine wohlwollende Sicht der Dinge so beschwerlich nicht: Chruschtschows „Entstalinisierung”, sein Mobilisierungsutopismus und der Kosmonautenrummel wirkten nach; die Regenerationsfähigkeit des angeblich bloß despotisch denaturierten Systems erschien zumindest diskutabel.

Mochten die Maoisten in aller Welt in den dunkelsten Farben malen und dem Kreml Revisionismus und Restauration des Kapitalismus andichten- also dem Sowjetbürger vorgaukeln, so wie sie damit jetzt selber die Massen „motivieren” wollen im Westen hoffe man auf Brückenbau, ja auf Konvergenz, und deute den eigenen Pragmatismus und die eigenen gesellschaftlichen Zustände und politischen Mechanismen in das Sowjetsystem hinein.

Noch hatte, Mitte der sechziger Jahre, der Panzerkommunisvmus, das „Biafra des Geistes” in der CSSR und, keine zehn Jahre später, die Austrocknung des Dissidenten-„Sump- fes” in der DDR, das nach Budapest, Mauerbau und Kuba freundlichere Image der Sowjetunion nicht ins Wanken gebracht, hatte Solschenizyn noch nicht einer breiten Öffentlichkeit ins Bewußtsein gerufen, was sie immer schon hätte wissen können, hatten Bukowski, Amalrik und andere noch nicht die Stafette der Wahrheit im Westen weitergetragen, hatten französische Jungintellektuelle noch ihren Oktober im Mai vor sich und mußten sich nicht, wie 1977, damit bekanntmachen, nachzuplappern, was auch damals längst schon als Lakaien des Imperialismus tätige Spatzen über Lenin, Marx und totalitären Kommunismus von den Dächern pfiffen.

Eine „Weltkonferenz” zur Exkom- munizierung der chinesischen Kommunisten und zur strammen Rückbindung der anderen Glaubensgenossen wollte freilich schon nicht mehr gelingen, aber bis zu den - im sowjetischen Machtbereich - so attraktiven Gaukeleien des „Eurokommunismus” war die Eigenwilligkeit von „Autonomisten” noch nicht gediehen. Blieb die Hoffnung auf die vertragliche Sicherung der Kriegsbeute sowohl in Ost- und Mitteleuropa wie gegenüber Japan, und auf machtstrategische Vorteile im Verteilungskampf unter den have-not und den reichen Ländern der Dritten Welt Indonesien mußte 1965 zwar abgeschrieben werden, aber mit Vietnam war das amerikanische Selbstgefühl angeknackst. Sollten die Amerikaner sehen, wie sie mit dem hinterfotzigen Mao zurechtkamen.

Noch konnte niemand, auch im Kreml nicht, Chile und Portugal gegen das wacklige Angola und die anderen afrikanischen Abenteuer aufrechnen und, nebenbei, Indira Gandhis und Frau Bandaranaikes und der Schwenkung in Bangia Desh gedenken. Noch hatte weder Podgornys Sturz vom entzündeten Horn Afrikas in die Versenkung noch die Etablierung der Fün ferbande Hua, Yeh, Li, Wang plus Stehaufmännchen . Teng der Welt abermals, wenngleich wieder vergeblich, verdeutlicht, wie demokratische Prozeduren im Vorbildsozialismus praktiziert werden. Der kurze Weg von Leningrad nach Helsinki zog sich zwar bis in die siebziger Jahre. Stalin und Molotow hatten, mit und ohne Hitler, schon an ihm mitgebaut Schließlich machten es de Gaulle, Bonn und Washington möglich.

Zusammengenommen sollten die Körbe von Helsinki wohl sein, was ein Markstein der Friedenspolitik genannt wird. Mit dem Bumerangeffekt

- daß mehr noch als Politträumer im Westen die eigenen Untertanen das Unterschriebene wörtlich nehmen könnten - glaubten die Kremlmachthaber und ihre Filialleiter offensichtlich nicht rechnen zu müssen.

Der Blick zurück

War denn die Welt, in Moskauer Sicht, trotz schwankender Ernteerfolge und prekärer Versorgungslage, vor zehn Jahren etwa noch in Ordnung? Heute mag selbst das so klingen, was vor zehn Jahren auch aus den Stuben der gelehrten Kommunismusforschung zum Jubiläum nach außen drang. 1977 ist man wieder, Tonnen- geprotze und Propaganda dort beiseite und hier schäbiges Frohlocken über die Konsummalaise, in Aufgeklärtheit einig: Kaum bestrittene zivilisatorische Leistungen, des weißen Mannes Bürde, mit allzu hohen „Kosten” (Verschleiß an Menschen und Material), zuviel Rüstung und West- Pump, bei all den Unzulänglichkeiten dennoch ein Leben „über die Verhältnisse”), zu wenig Demokratie; also: Oberflächenbetrachtung, aus.

Redete mein 1957 denn anders? Hatte mit dem 20. Parteitag der KPdSU und endlich mit der Ausbootung der „parteifeindlichen Gruppe” um Molotow, Kaganowitsch und andere denn nicht eine Reformära begonnen? Oder war ein Jahrzehnt davor etwa nicht, ohne Trotzki, der Sieg errungen worden und immer noch der Triumph des „Großen Vaterländischen Krieges” zu feiern? Und galt es 1937, nach Kirows Ermordung und den ersten großen Säuberungen, denn nicht, Stalins, die allerdemokratischste Verfassung der Welt zu feiern, beglückt durch eine so komplette Alternative zum Faschismus im barbarischen Westen? War 1927, drei Jahre nach Lenins Tod, mit Stalins Durchsetzung im Kampf um die Nachfolge denn nicht der Beginn der eigentlichen Revolution - Kollektivierung und Industrialisierung also die Fortsetzung der russischen imperialen Geschichte zu begrüßen?

Wieder einmal zeigt sich: Vergangenheit ist schön, kann nur immer schöner werden. Sie baut sich auf all dem Vergessenen, Verdrängten, Geleugneten auf; sie ist (scheinbar) dem Willen und den Wünschen des Tages zu Diensten und den widrigen Winden von morgen entrückt.

Ubi Lenin, ibi Jerusalem, Sargnagel von Emst Blochs Prinzip, Hoffnung und Heilsformel des Prinzips Schwachsinn, will so recht nicht mehr verfangen, nicht einmal in West und Süd. Was für ein Verhältnis dennauch, zwischen der Mutterpartei und den anderen „revolutionären Kontingenten” (so Breschnjew), Wenn „Antiso- wjetisten” gerade durch die offizielle Lügenpraxis in die Lage versetzt werden, die KP-Gefolgschaft und andere über den „realen Sozialismus” zu informieren. Wie es um die Vergangenheit in zehn Jahren stehen wird? Ob sich im Herbst 1987 das Jahr 1977 wiederum respektabel ausnimmt? Ob das für Moskau tröstlich wäre?

Roter Oktober, warum welkst du denn schon?

Bilanzfaktor Ideologie

Weiß es die Theorie denn nicht besser? Breschnjews Verfassung, sein Präsent zum 60. Oktober, beschreibt die heutige Sowjetunion als Gesellschaft des entwickelten Sozialismus und bekräftigt, daß die Diktatur des Proletariats durch den Volksstaat, den Staat des ganzen Volkes ersetzt worden sei. Nun ist die Droh- und Schrek- kensformel schon unter Chruschtschow, 1961, in die Rumpelkammer der Geschichte verfrachtet und der neue Zustand noch innigerer Klassenharmonie schon für die inzwischen verflossene Zeit proklamiert worden. Bei aller Kritik an der Person Chruschtschows nach seinem Sturz, hat sein „Langzeitprogramm”, das neue (dritte) Programm der KPdSU des 22. Parteitags, seine Gültigkeit behalten. Es war mit maßlosen Zielen im wesentlichen auf zwanzig Jahre angelegt, müßte jetzt also vor seiner Erfüllung stehen.

Davon kann keine Rede sein. 1971 bis 1980 sollte die materiell-technische Basis des Kommunismus geschaffen werden, 1980 müßten also die Voraussetzungen für die kommunistische Gesellschaft zustandegekommen sein. Laut immer noch gültigem Parteiprogramm stünde der lüstvolle Übergang ins Muster- und Oberparadies in Bälde bevor, was, mit dem Absterben und Verschwinden von Staat, Armee, Recht, Justiz, Polizei und der Führungsfunktion der KPdSU nicht nur Anarchisten begeistern würde – wenn die böse Außenwelt das nicht ohnehin unmöglich machen würde und in der neuen Verfassung nicht mit dem „Staat des ganzen Volkes” und der Verankerung der Leitaufgabe der Partei dafür gesorgt worden wäre, daß alles beim alten bleibt.

Von dem Zugzwang, den der Legitimationscharakter der Ideologie und des Parteiprogramms mit sich bringt, kann sich ein totalitäres Regime auch kraft seiner Struktur und mit abermals nur wieder willkürlich verlängerten Fristen und herabgesetzten Versprechungen nicht gänzlich befreien. Deshalb die Existenznot des Regimes: Es kann der herrschaftslegi- timitierenden Selbstverpflichtung nicht entraten, ihr aber auch infolge der lähmenden Wirkung der Ideologie auf die Gesellschaft nicht nachkom- men. Also Breschnjews Achselzucken vor Kissinger und Berlinguer, die alt- neuen Formeln, Korruption und Repression. Die zurückgeschraubten Zusagen des Regimes, Zeichen seiner mühsam kaschierten Drückebergerei, sind ja längst .von den Erwartungen und Ansprüchen aller Schichten und Gruppen der Bevölkerung überholt, womit der Mobilisierungsdruck umgekehrt worden ist.

Die Menschenrechtsrechnung

Während sich die einen im Westen immer noch fragen, ob denn die Ideologie im Kreml oder sonstwo noch „geglaubt” werde, und andere wer- bend-entspannend, wie sie meinen, mitteüen, daß das (bald) keiner mehr tue, ist es doch längst so, daß die Theorie eine bleiernde Last ist, unheilvoll und unentbehrlich. Albert Camus hat in einen Jakobiner-Satz gebracht, weshalb sie unmenschlich und mörderisch ist: Der Marxismus ist eine Philosophie des Gerichtsverfahrens, abe’r ohne Jurisprudenz. „Sozialistische Gesetzlichkeit’”, Chruschtschows Intention, gibt es nur nach Opportunität, immer nur auf Widerruf, als hin und wieder gewendetes Tarnmäntelchen. Im Sommer 1936 und 1961 gab es, längst vergessen, millionenfache „Volks”-Diskussionen vor Stalins Verfassung und Chruschtschows Parteiprogramm; im Sommer 1977 dienen sie, als Abertausendblümchenblüte, abermals als Ventile, bis sie eiligst wieder gestopft und hinter offizieller Augenauswischerei versteckt werden.

Eine neue Variante des beliebten Ost-West-Vergleichs: die Aufrech nung von Menschenrechten. Als ob die freiheitlich-demokratische Ordnung als Glücksgewährungsanstalt fungieren wollte, wie es der Staatssozialismus mit all den bekannten Folgen in Anspruch nimmt, und als ob die von sich, selber ablenkende Anklage des „kapitalistischen Systems” der marxistisch-leninistischen Darstellung gemäß etwas anderes sein könnte als die Beschreibung eines unvermeidlichen Zustandes, den anzuklagen so fruchtlos ist wie das Anbellen des Mondes. Nur ein zur propagandistischen Selbstverteidigung und Polemik heruntergekommener Marxismus kann gegenüber der parlamentarischen Demokratie als Moralist auftreten. Die Moral der Menschenrechte kann sich, marxistischem Selbstverständnis entsprechend, nur gegen den angeblich qualitativ höheren „geschichtlichen” Zustand, den Sozialismus, richten. Dennoch oder eben deshalb muß versucht werden, mit Mücken Elefanten zu verdecken Dafür, daß auch das Eindruck macht, sorgen mit Schreibe, TV-Ton und Bild schon die „reuigen Edelmänner” unseres Jahrhunderts in der westlichen Jammertalsohle.

Das ideologisch an sich unzulässige Aufrechnen von Mängeln, das Vergleichsbedürfnis, das sich damit manifestiert, verrät nun freilich selbst hier, in der wütenden Abwehr der „Menschenrechtskampagne”, in der Verteidigung des Anspruchs, die künftige bessere Welt zu repräsentieren, endlich „einzuholen und zu überholen”, das insgeheime Gleichwertigkeitsstreben, die kompensatorisch eingestandene Unterlegenheit. Heiner Müller, Bühnenschriftsteller in der DDR, hat es aus Anlaß von Thomas Braschs „Kaxgo” ausgesprochen: Das Elend des Vergleichens ist das Elend der Ideologie. Was aber hält die Kalamität am Leben, verhindert, daß der Teufelsknoten durchhauen wird?

Kurt Markos Analyse von 60 Jahren sowjetischer Politik wird in der nächsten Nummer der FURCHE fortgesetzt.

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