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Rotkäppchen

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So, liebe Kinder, nun haben wir die Geschichte vom Rotkäppchen gehört. Habt ihr sie auch verstanden? „Ja, ja.“ Wer sie nicht ganz verstanden hat, der zeige auf. Du, Moritzl? Dacht ich mir's doch! Das freut mich wirklich. Wir beginnen also von vorne, hört gut zu, und wenn ihr etwas nicht versteht, dürft ihr sofort fragen. Ich bin ja dazu da, um mit euch gemeinsam herauszufinden, was uns diese Geschichte sagen will. Also aufgepaßt:

Es war einmal ein kleines Mädchen, das trug immer eine hübsche rote Mütze, darum nannte man es Rotkäppchen... Ja, Hansi, was gibt es denn? „Bitte, warum hieß es nicht Rotmützchen?“ Eine sehr kluge Frage, Hansi! - In jener Gegend nannte man eine Mütze Kappe, aber es ist dasselbe. - Das Mädchen wohnte mit seinen Eltern in der Nähe eines großen Waldes. Seine Großmutter wohnte mitten im Walde, in einem kleinen Häuschen, und Rotkäppchen ging sie oft besuchen.

Monika? „Bitte, warum wohnte die Großmutter nicht beim Rotkäppchen?“ Nun, warum glaubt ihr? - Ihr seht jetzt, die Geschichte ist gar nicht so leicht zu verstehen, wie euch das zuerst vorgekommen ist! Das ist auch eine gute Frage, Monika! - Nun, Erich? „Vielleicht haben sie sich nicht vertragen!“ Das wäre denkbar, das kommt vor; was meinst du, Astrid? „Sie will ihre Ruh haben; das Rotkäppchen macht ihr zu viel Lärm!“ Kann sein; obzwar wir doch gehört haben, daß das Rotkäppchen ein braves kleines Mädchen war. — Fällt euch nicht ein besserer Grund ein?

Warum wohnt denn deine Großmutter nicht bei euch, Mitzi? „Weü wir eh schon keinen Platz haben!“ Nun seht ihr! Das wird wahrscheinlich auch dort der Grund gewesen sein, übrigens ist das eigentlich nicht so wichtig...

Hört weiter! Eines Tages sagte die Mutter: Rotkäppchen, heute hat die Großmutter Geburtstag, sieh, ich habe einen feinen Kuchen gebacken, ich gebe ihn hier in das Körbchen und eine Flasche Wein dazu... „Meine Mutter sagt, Wein ist nicht gesund!“ Das ist richtig, Edith, aber in besonderen Fällen und bei niedrigem Blutdruck empfiehlt zuweilen der Arzt alten Leuten ein Gläschen Rotwein; gewiß war das hier der Fall... Fahren wir fort: Du mußt dich jetzt auf den Weg machen, mein Kind...

Was ist denn, Moritz? „Versteh ich nicht!“ Was denn nur? „Auf den Weg machen“ (Gekicher). Aber, Moritz, stell dich nicht dümmer als du bist! Das heißt natürlich, sie mußte jetzt fortgehen ... Hansi, was ist jetzt schon wieder? „Wer geht fort? Sie haben doch gesagt: Wir fahren fort...“ Ach, Gott, fortfahren heißt, eine Geschichte weitererzählen! Und in dieser Geschichte ging Rotkäppchen jetzt fort. Wer denn sonst?

.Aber Frau Lehrerin hat gestern gesagt, Wörter mit... chen und... lein sind immer sächlichen Geschlechts?“ Wo du recht hast, hast du recht. Es hat sich zwar eingebürgert, aber wir wollen ganz korrekt sein: es mußte fortgehen, und die Mutter rief ihm nach: Bleib nur immer schön auf dem Wege und blicke nicht nach rechts und links, sonst kommt der böse Wolf und frißt dich auf!

Ja, was habt ihr denn? Ruhe! Man versteht sein eigenes Wort nicht! Einer nach dem anderen! Der Michael hat sich zuerst gemeldet; was möchtest du wissen? „Wieso der Wolf kommt, wenn man auf die Seite schaut?“ Das ist eine Redensart, das heißt nur, daß man direkt auf sein Ziel losgehen soll. Anni? „Wenn die Mutter weiß, daß ein Wolf im Wald ist, wieso schickt sie dann das Kind und geht nicht lieber selber?“

Moritz, Zwischenruf: „Weil sie dazu viel zu feig ist!“ — Moritz, du kannst ganz frei deine Meinung äußern, aber nur, wenn du das Wort hast! Ich höre mir zuerst alle eure Fragen an, um sie dann gemeinsam zu beantworten. Herbert? „Bitte, mein Papa sagt, einen Wolf gibt es nur in Schönbrunn und in Rußland!“ — Ja und noch in anderen fernen Ländern; dein Vater hat ganz recht, heute verhält es sich so. Aber damals, vor langer Zeit, waren unsere Wälder viel größer, und es gab auch bei uns Wölfe. Auch heute gibt es ja noch gefähr liehe Tiere, zum Beispiel Schlangen, in manchen Gegenden. Und dennoch dürfen die Kinder in den Wald, etwa um Beeren zu brocken. Man muß eben die Gefahren kennen und sich richtig verhalten. Ist nun alles klar?

Also hört weiter: Es war ein wunderschöner Tag, die Sonne schien und ringsum wuchsen viele Blumen; und Rotkäppchen vergaß ganz, daß es sich beeilen sollte, und begann links und rechts vom Wege Blumen zu pflücken. Die wollte, es seiner kranken Großmutter bringen, um ihr eine Freude zu machen! „Das liebe Rotkäppchen!“

Ja, gewiß, an sich war das lieb vom Rotkäppchen, aber es hatte dabei das Verbot der Mutter ganz vergessen! Wie erschrak es, als nun plötzlich der böse Wolf vor ihm stand. - Erich, was willst du? „Wäre der Wolf nicht auch gekommen, wenn das Rotkäppchen geradeaus gegangen wäre?“ Das weiß ich nicht... Wahrscheinlich nicht... Der Böse verabscheut gebahnte Wege...

Moritz, schon wieder? Du kannst nicht immer das große Wort führen! Gehört denn überhaupt zur Sache, was du sagen willst? „Und ob! Also: Er wäre ihr bestimmt auch auf dem Wege begegnet. Pardon: ihm.“ Woher willst du das wissen? „Ich will ja gar nicht! Was kann ich dafür, daß mir mein Vater gesagt hat, jeder Hund riecht einen Menschen von weitem, und ein Wolf von noch weiterem...“ Moritz, es heißt... „Ausreden lassen! Damit ich mich nicht kupiert fühle!“

So fahre fort! „Bange Frage: Ist vielleicht die ganze Geschichte ein Blödsinn? Weil, die Blumen haben damit überhaupt nichts zu tun. Viel interessanter ist die Abstammung der Haustiere von jenen in freier Wildbahn, da ergeben sich nämlich die merkwürdigsten Mutationen, welche relevante Schlüsse auf die Domina-tion und Frustration der Menschen in einer regressiven, respektive repressiven Gesellschaftsordnung ...“ (Es läutet.)

Hochinteressant, lieber Moritz. Diesen Gedanken wollen wir nächstes Mal weiter verfolgen. Jetzt müssen wir leider Schluß machen.—Warum weinst du denn, Klärchen? „Weil ich von der ganzen Geschichte jetzt gar nichts mehr verstehe!“ Das macht doch nichts; dafür kommen wir der eigentlichen Aussage Schritt für Schritt näher!

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