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Rückkehr zu den Wurzeln
Die Perestrojka leitet allmählich das Ende des kommunistischen Einparteisystems in der Sowjetunion ein. Die baltischen Republiken waren die ersten, die das Einparteisystem offiziell abschafften. Im Baltikum konnten die neuen politischen Bewegungen, darunter auch die Christdemokraten, offiziell als Parteien zugelassen werden.
In Litauen haben die Christdemokraten bei den ersten freien Wahlen den Einzug in das Parlament geschafft. Zwei christdemokratische Abgeordnete im litauischen Parlament stehen in Koalition mit den mehrheitlich in das Volksdeputiertenhaus gewählten Vertretern der „Sajudis"-Bewe-gung. In Estland gelang es nur einem Kandidaten von der Wahlliste der estnischen Christdemokraten, dem Parteivorsitzenden Illar Hallaste, in das Parlament zu ziehen. In beiden Republiken gewannen sie jedoch zahlreiche Mandate für die regionalen Räte. In Estland kandidierten 22, in Litauen 48 für die regionalen Mandate. In Lettland gab es bei den Wahlen keine Kandidatur von Christdemokraten.
Der bescheidene Wahlerfolg der baltischen Christdemokraten hat verschiedene Ursachen. In Lettland ist eine christdemokratische Parteitradition unbekannt. In der Zeit der Unabhängigkeit gab es nur eine Christliche Bauernpartei, die fast ausschließlich von den lettgallischen Katholiken im südöstlichen Teil des Landes getragen wurde. Sie verlor aber an Einfluß, als die bedrohlichen europäischen Entwicklungen in den dreißiger Jahren - der Nationalsozialismus und der stalinistische Kommunismus - die baltischen Staaten zwangen, nationalistische Einheitsparteien zu formieren. Das hatte ein Ende der parlamentarischen Demokratie zur Folge.
,1935 wurde die litauische Christdemokratische Partei, die seit ihrer Gründung 1918 entweder mitregierte oder stärkste Oppositionspartei war, verboten. Die estnische Christliche Volkspartei, die 1919 fünf Abgeordnete im Parlament hatte, wurde 1935 in die bürgerliche Volkspartei eingegliedert. Die lettische Christliche Bauernpartei war nur eine politische Randerscheinung.
Die lettische Christliche Bauernpartei wurde auch jetzt nicht mehr neugegründet. Die lettgallische katholische Bevölkerung wollte sich gemäß dem Wunsch ihres kürzlich verstorbenen Primas, Kardinal Julijan Vaivods, nicht politisch profilieren. Die estnische CDU wurde erst am 30. Juni 1989 mit rund 300 Mitgliedern konstituiert, nachdem sich die ursprünglich gegründete Estnische Christliche Union gespalten hatte. Ein Großteil der Mitglieder hielt Abstand vom parteipolitischen Engagement und sah seine Aufgabe darin, das christliche Laienapostolat neu zu strukturieren.
Das Hauptaugenmerk galt der christlichen Erwachsenenbildung, der Caritas- und Jugendarbeit. Die apolitische Gruppe ist heute in allen Regionen Estlands vertreten und wirkt überkonfessionell unter dem Vereinsnamen „Estnische Christliche Allianz".
Den litauischen Christdemokraten blieb eine Diskussion über die Gründung ihrer Partei am 27. Jänner 1990 erspart. Das Laienapostolat wird vom katholischen Frauenbund „Kataliskas Moteru Sambu-ris Caritas" getragen.
Die estnischen und litauischen christdemokratischen Parteien wurden zu kurz vor den Wahlen gegründet. Parteiinterne Diskussionen über ein akzeptierbares Programm hatten zur Folge, daß die beiden Parteien erst kurz vor dem Urnengang öffentlich aktiv werden konnten. Sie begegneten dann einer Bevölkerung, die ihre Stimme bereits für die eigene Volksfront reserviert hatte.
Die jeweiligen Volksfronten haben das Verdienst, daß sie als Sammelbewegungen die Vorherrschaft der Kommunisten überhaupt ins Wanken gebracht haben und dafür Vorarbeit leisteten, daß die Christdemokraten und andere Parteien zugelassen werden konnten.
Die Christdemokraten stehen denn auch voll hinter den nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, sie gehen aber einen Schritt weiter und stellen Überlegungen an, auf welcher weltanschaulichen Grundlage sich ihr unabhängig gewordener Staat entwickeln sollte.
Nach dem estnischen CDU-Vorsitzenden Hallkste gibt es nur einen Weg: „Das Christentum ist die Grundlage unserer europäischen Kultur. Jahrzehntelang haben wir versucht, es zu verleugnen und sind damit schließlich an den Rand des Abgrunds geraten. Die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln, die Hinwendung zu den Erfahrungen, die die Menschheit in zwei christlichen Jahrtausenden gesammelt hat, das ist es, wozu die CDU Estlands aufruft. " Ähnliche Inhalte können auch den Reden des litauischen CDP-Vorsitzenden Egidijus Klumbys entnommen werden.
Wenn die estnischen und litauischen Christdemokraten vorerst keine großen Erfolge vermelden können, rechnen sie mit einem langfristigen Aufschwung. Sie wissen, daß die Kirchenführer sie als Gesprächspartner suchen und sie sind überzeugt, daß sie eine entscheidende Rolle bei die Rückkehr des Christlichen in das Leben ihrer Völker spielen müssen. Sie blicken über die eigenen Grenzen hinweg nach Ost und West.
Sie sind mittlerweile in die Christdemokratische Internationale aufgenommen worden und über das Europäische Parlament in Straßburg suchen sie Kontakt mit westeuropäischen Parteien und Politikern. Dieser Tage weilte der litauische CDP-Vorsitzende Klumbys mit dem litauischen Außenminister Algirdas Saugardas in Straßburg. Der feste Kontakt der litauischen CDP mit dem Europäischen Parlament erleichterte es, dem litauischen Außenminister eine Einladung zukommen zu lassen.
Der Blick nach Osten ist ebenfalls von Bedeutung. Den Christdemokraten im Baltikum ist es zu verdanken, daß sich Schwesterbewegungen in anderen Sowjetrepubliken formieren konnten. Georgische, weißrussische, russische und ukrainische christdemokratische Parteianhänger haben sich oft in das Baltikum begeben müssen, um Parteikongresse abzuhalten.
Diebaltischen Christdemokraten helfen mit dem Druck von Parteischriften und vermitteln den Kontakt zum Westen. Im September 1989 war die estnische CDU Gastgeberin der ersten Konferenz der christdemokratischen Gruppen der UdSSR. Weil Vertreter auch aus dem Westen eintrafen, kamen hier erstmals Christdemokraten aus Ost und West zusammen.
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