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Rückzugsgefecht in Bayreuth

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Als Hagen auf den bereits niedergestreckten Siegfried noch zweimal einstach, störten einige Pfui-Rufe die Aufführung, als sei Karl Ridderbusch für die Ideen seines Regisseurs verantwortlich. Aber die vier „Ring”-Abende in Bayreuth bestätigten die Lebensfähigkeit der Inszenierung Patrice Chė- reaus aus dem Vorjahr. Der Regisseur und sein Bühnenbildner haben sie im zweiten Jahr verbessert und intensiviert. Manches wurde weggelassen, das Wagner durch allzu wö rtliche Auslegung des Textes oder der Szenenvorschriften ironisierte. Es gab ein neues Walhall. Statt der gewollt geschmacklosen Zitadelle zwischen Manhattan Skyline und Stalinbarock präsentierte sich jetzt quasi die Protzfassade eines Versicherungskonzerns, an der ein Porticus mit Relief und Marmorsäule Kunst am Bau suggeriert und von kalten Betonwänden ablenken soll. In der „Walküre” verschwand das Matterhorn samtHelden- friedhof (auch die Pferde treten jetzt nicht mehr auf). Der Walkürenfelsen ist nun ein ruinenhafter Bau auf imaginärer Bergkuppe, ein von drei Seiten begrenzter Raum, Kultstätte und Sammelpunkt der Wotanstöchter.

Die neue Lösung ist zwingender, bietet mehr Geschlossenheit gegenüber den vorangehenden Akten und verleiht dem Geschehen mehr Dramatik. Diese Katakombenruine greift auf „Siegfried” und „Götterdämmerung” über, fordert neue szenische Lösungen heraus, wie etwa im dritten Akt des „Siegfried”. Hier ereignet sich eine

Erwachens- und Liebesszene, wie man sie in solchem Nuancenreichtum, solch anrührender Unschuld noch in keiner Bayreuther Inszenierung seit 1951 gesehen hat. Zwei junge Menschen, völlig unbedarft, erfahren in einem Crescendo des Gefühls das Lie- beswunder von der Angst über spielerische Plänkelei bis zum Wonnerausch. Musikalischer läßt sich’s nicht inszenieren.

Geblieben ist der Schluß des „Ring” als großes Fragezeichen. Chėreau sieht keine Lösung. Man weiß nach der „Götterdämmerung” noch nicht einmal genau, ob Walhall tatsächlich un- tergegangen ist, und die Menschenmasse, die auf der Bühne dem Schlußspektakel zusieht, dreht sich um und blickt fragend ins Publikum. Exakte res Aushorchen der Musik brächte hier schon eine Antwort. Abgeschlossen ist die Arbeit am „Ring” im zweiten Jahr noch nicht.

Gewonnen hat der „Ring” auch an musikalischem Profil Pierre Boulez gelangen eine großartige, geschlossene „Rheingold”-Aufführung und ein grandioser „Siegfried”. In der „Walküre” war vor allem der erste Akt zu hektisch, in der „Götterdämmerung” stimmten mitunter die Temporelationen nicht ganz. Auch ist Boulez nicht versierter Kapellmeister genug, um einen Schmiß abzufangen. Altwagnerianer vermissen das Pathos, die martialische Gebärde. Aber Boulez geht es nicht ums plastische Motivspiel für Rätselfreunde, sondern um die Funktion der Musik innerhalb des Dramas. In der Partnerschaft mit Chėreau zielt er nicht auf den Verdoppelungseffekt zwischen Szene und Musik, sondern auf komplementäre Erweiterung: das ist intellektuell, aber nicht unwagnerisch.

Im erstklassigen Sängerensemble dominierte Heinz Zednik als Loge und Mime; es gab Überraschungen, wie den 29jährigen Robert Schunk als Siegmund oder den nur wenig älteren Manfred Jung als Siegfried der „Götterdämmerung”. Rechnet man den Jung-Siegfried Renė Kollo dazu und den als Froh sehr vielversprechenden Debütanten Siegfried Jerusalem, darf man erfreut konstatieren, daß es wieder Tenöre gibt.

Am ersten Pausentag des „Ring” konstituierte sich in Bayreuth ein .Aktionskreis für Wagners Werke”, die Vereinigung der Chėreau-Gegner. Sie kamen zu spät. Die Proteste im Festspielhaus waren ein eindeutiges Rückzugsgefecht. Und mit Vereinsgründungen kann man den Lauf der Ereignisse nicht aufhalten.

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