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Rufe aus der Verbannung

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Es scheint fast schon wieder vergessen zu sein, daß im Frühjahr 1983 eine Zeitlang die Hoffnung bestand, Andrej Sacharow würde aus seiner — Verbannung genannten — Isolierhaft in Gorki entlassen werden und mit seiner Frau, Elena Bonner, in den Westen ausreisen können. Bekanntlich hat man sich darum auch nachhaltig in Wien bemüht, so auch die Universität.

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Es scheint fast schon wieder vergessen zu sein, daß im Frühjahr 1983 eine Zeitlang die Hoffnung bestand, Andrej Sacharow würde aus seiner — Verbannung genannten — Isolierhaft in Gorki entlassen werden und mit seiner Frau, Elena Bonner, in den Westen ausreisen können. Bekanntlich hat man sich darum auch nachhaltig in Wien bemüht, so auch die Universität.

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Heute erscheint es eher so, als wäre diese Erwartung von offizieller Seite nur geweckt worden, um den herz- und kreislaufkranken Bürgerrechtler einmal mehr zu treffen, ihn noch mehr psychisehen Belastungen auszusetzen. Die Kampagne in den sowjetischen Medien gegen Sacharow ist seither wieder verstärkt worden; ihr Tenor gegen ihn und seine ebenfalls herzkranke Frau hat sich bedrohlich verschärft.

Dem Gelehrten droht die Zwangspsychiatrierung. Anatoloj Alexandrow, der Präsident der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, gab sich dazu her zu behaupten, daß Sacharow in letzter Zeit eine „ernsthafte psychische Veränderung durchmache“. Er soll zum Geisteskranken, also für unzurechnungsfähig erklärt werden; zugleich wird von dem angeblich Verrückten aber auch immer verlangt — was die „Diagnose“ oder besser Anschuldigung gegenstandslos macht—, daß er seine Irrtümer und Verfehlungen einsehen möge, sich zum rechten sowjetischen Weg bekehren solle.

Frau Bonner wird als der böse Geist ihres Mannes hingestellt, gar im Dienst des internationalen Zionismus, wie Nikolaj Jakow- lew, ein sich dem jeweiligen Führungsclan im Kreml andienender „Historiker“ in Großauflagen zu verbreiten in der Lage ist.

Am vierten Internationalen Sa- charow-Hearing Mitte Oktober 1983 in Lissabon ist die unhaltbare Lage Sacharows und seiner Frau der Weltöffentlichkeit wiederum nahegebracht worden. Gelegenheit, sich Sacharows Gedanken zu vergegenwärtigen, bietet die Auswahl von Aufsätzen, Briefen und Aufrufen aus den Jahren 1978-1983 aus seiner Feder, die Cornelia Gerstenmaier soeben herausgegeben hat.

Die Sammlung erscheint hoffentlich nicht zu spät, sondern vielleicht doch noch — nicht nur für Sacharow — zur rechten Zeit. Mit ihr soll Sacharow ja nicht nur für uns alle präsent bleiben; er darf auch nicht zu dem Leidensmann in Gorki reduziert werden, an dessen bedauernswertem Schicksal man zwar mehr oder minder Anteil nimmt, dessen Denken aįer dahinter zurücksteht.

Dieser Gefahr (aus Bequemlichkeit) könnte die neue Sammlung von Sacharows Überlegungen zu den Ost-West-Beziehun- gen, zu weltpolitischen Ereignissen und zu Menschenrechtsfragen, zur Friedenssicherung, zur

Abrüstung und zur Verantwortung des Wissenschaftlers ebenso entgegenwirken wie einige seiner Aufrufe zugunsten Verfolgter, wie seine Appelle nun auch in eigener Sache, aber auch Frau Ger-stenmaiers Einleitung in den Sammelband, mit welcher Sacharows einzigartiger Rang vom geistigen und politischen Schicksal Rußlands her erläutert wird.

Ergänzt wird diese eindrucksvolle, sachlich zutreffende Darlegung von Sacharows Lebensweg und seiner heutigen intellektuellen und moralischen Position sowohl durch eine Auswahl von Appellen und Solidaritätsadressen für Sacharow aus der Sowjetunion, aus Polen und der Tschechoslowakei wie auch durch die Wiedergabe eines von vier Mitgliedern der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften Unterzeichneten Angriffs auf Sacharow in der „Iswestija“ vom 3. Juli 1983.

Solidarität — Sacharow gegenüber sollte das Wort mehr sein als eine inflationierte Vokabel.

Uber das gestörte strategische Gleichgewicht und über die Gefahr eines thermonuklearen Krieges hat Sacharow in seinem Offenen Brief an die Teilnehmer der Pugwash-Konferenz und in seinem Offenen Brief an den amerikanischen Physiker Sidney Drell Kompetentes zu sagen; Hilfreicheres als ein Franz Alt, ein (erfolgreich) mit der Bergpredigt in die Irre führender TV-Moderator, dessen auf einige Wochen befristetes Abtreten vom Bildschirm ihn schon zum Gesinnungsmärtyrer macht. Man halte dem Sacharows Bedrängnis entgegen!

Muß es so sein? Daß in der Musikstadt Wien und anderswo Fidelio konsumiert wird, Sacharows Botschaft aber unbeachtet, unge- hört bleibt und Frau Bonners verzweifeltes Kämpfen um ihr und ihres Mannes Überleben keine Unterstützung findet?

DEN FRIEDEN RETTEN! Ausgewählte Aufsätze, Briefe, Aufrufe 1978-1983. Von Andrej Sacharow. Eine „Kontinent“-Dokumentation, herausgegeben von Cornelia Gerstenmaier. Burg Verlag, Stuttgart-Bonn 1983. 223 Seiten, Broschur, öS 112,50.

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