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Russe und Europäer

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Am 30. Oktober 1821 wurde Fjodor Michailowitsch als Sohn eines Armenarztes in Moskau geboren. Er war achtzehn, als er die Nachricht von der Ermordung seines Vaters erfuhr, der auf seinem Gut das Leben eines Wüstlings, Trunkenbolds und Tyrannen geführt hatte und von seinen mißhandelten Leibeigenen erschlagen wurde. Als Dreiundzwanzigjähriger nahm er im Raiįg eines Oberleutnants jähen Abschied von der Armee, weil er nicht länger dienen, nicht länger seine besten Jahre verlieren wollte. In einem Brief ist die Grundmelodie angeschlagen, die sein Leben bis zum Ende begleiten sollte: Geldnot und Ablehnung jeden Kompromisses. „Am schlimmsten aber ist, daß ich einen schlechten und übertrieben leidenschaftlichen Charakter habe. In allen Dingen gehe ich bis an die äußersten Grenzen; mein Leben lang habe ich nie maßhalten können.“

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Am 30. Oktober 1821 wurde Fjodor Michailowitsch als Sohn eines Armenarztes in Moskau geboren. Er war achtzehn, als er die Nachricht von der Ermordung seines Vaters erfuhr, der auf seinem Gut das Leben eines Wüstlings, Trunkenbolds und Tyrannen geführt hatte und von seinen mißhandelten Leibeigenen erschlagen wurde. Als Dreiundzwanzigjähriger nahm er im Raiįg eines Oberleutnants jähen Abschied von der Armee, weil er nicht länger dienen, nicht länger seine besten Jahre verlieren wollte. In einem Brief ist die Grundmelodie angeschlagen, die sein Leben bis zum Ende begleiten sollte: Geldnot und Ablehnung jeden Kompromisses. „Am schlimmsten aber ist, daß ich einen schlechten und übertrieben leidenschaftlichen Charakter habe. In allen Dingen gehe ich bis an die äußersten Grenzen; mein Leben lang habe ich nie maßhalten können.“

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As kaum Achtundzwanzigjähriger wurde er als Mitglied eines Verschwörerkreises verhaftet. Nach acht Monaten Festungshaft brachte man ihn und die andern eines frühen Morgens aus dem Gefängnis zur Richtstätte, wo schon das Erschießungskommando bereitstand. Im allerletzten Augenblick wurde durch einen Gnadenakt des Zaren die Hinrichtung ausgesetzt. Er wäre wohl wahnsinnig geworden, berichtete er später seiner Frau, wenn die Katastrophe — Festnahme und Verurteilung — nicht in sein Leben eingegriffen hätte. Sie löste eine gewaltige innere Erschütterung in Dostojewski aus, eine bis in die Tiefe seines Wesens gehende Reinigung.

„Ich habe meine letzte Stunde schon durchlebt, und nun fange ich noch einmal an zu leben.“ Etwas Ungeheueres hatte sich ereignet: Sicherungen und Illusionen, an die andere Schriftsteller dieses Jahrhunderts sich klammerten, an die sie noch glauben wollten — Dostojewski hat sie in jener halben Stunde und in den folgenden gräßlich langen Jahren im Zuchthaus, im „Totenhaus“, und in den sibirischen Kasernen, umschlossen von Mauern, Ketten, Schmutz und der kirgisischen Steppe, für immer hinter sich gelassen. Nur wenige haben den „Nullpunkt der Existenz“ so begriffen, so durchschritten wie Dostojewski. Die Aufzeichnungen aus einem Totenhaus bezeugen es.

Das Leben gewann nun, abgesehen von allen seinen Inhalten, unendlichen Wert für ihn; jede Minute wurde in eine Ewigkeit verwandelt. Darum bejahte er in seinem Werk, das alle Grundtdefen des Menschlichen aufdeckte und bis an die äußerste Grenze der Vernichtung und Verneinung ging, die Herrlichkeit des Lebens. Das Erlebnis des Todes half ihm noch weiter. Nicht nur, daß er den Wert des Lebens erkannt hatte — durch das Erleben der Sekunde wurden ihm die feinsten psychologischen Zusammenhänge deutlich: er erfaßte den inneren Vorgang der Tat, des Denkens, des Füh- lens bis in die letzte geringfügigste Einzelheit; hier wurzelte sein psychologisches Wissen, das alles vor ihm Dagewesene unfaßlich überschritt!

Dostojewskis Leben war eines der großartigsten Beispiele dafür, wie sehr der Mensch fähig ist, sein Leben umzuprägen, sein Schicksal durch die Deutung seines Erlebens selbst zu formen. Den überempfindlichen, nervenkranken jungen Dostojewski trafen Todesurteil und Verbannung, was auch robustere seiner Gefährten nicht überstanden. Der schwere Epileptiker mußte vor den Gläubigern ins Ausland fliehen, der quälendsten Not ausgeliefert. Der Kranke war widerstandslos zerstörenden Leidenschaften preisgegeben — ihm schienen Wahnsinn und Untergang vorherbestimmt. Und dennoch gelang es gerade ihm, alle Gefahren zu überstehen.

Dabei durfte er ihnen nicht einmal ausweichen: er mußte seine Krankheit, seine Not, seine Leidenschaften wirksam werden lassen, denn sie waren seine Mittel, das Chaos, das ihm zu gestalten auferlegt war, an sich selbst zu erleben. Aber die Kraft des Sittlichen in ihm war so groß, daß er alles zu überwinden, jedem Verhängnis Segen abzugewinnen vermochte. Thomas Mann sprach einmal von dem tiefen verbrecherischen Heiligenantlitz Dostojewskis, dieses „Mitverschwörers der Dämonen“, und von der furchtbaren moralischen Wucht, der religiösen Schrecklichkeit seiner Seelenkunde. Hier sei nicht griechische Unschuld, wie noch in den von Goethe geschilderten Verbrechen. In Dostojewskis Leben herrschte die Hölle. Dostojewski selbst empfand es nicht so. Sogar in der Fallsucht erblickte er eine schreckliche Begnadung. Die Anfälle, die durchschnittlich einmal im Monat, zuweilen aber auch zweimal in der Woche auftraten und den Schöpfungsakt in geheimnisvoller Weise begünstigten, waren trotz der furchtbaren Zerrüttung, die ihnen folgte, ersehnte Zustände eines hohen, unvergleichlichen Glücks.

Im Zuchthaus, in der sibirischen Verbannung war er den russischen Menschen begegnet, in Berührung mit dem seltsamen russischen Leben gekommen. „Bruder“, schrieb er, „wie viele Volkstypen, wie viele verschiedene Charaktere habe ich ken- nengelemt. Wie viele Lebensläufe von Landstreichern und Raubmördern wurden mir bekannt und wieviel Einblick in dieses trübe, jam mervolle Dasein hat sich mir geboten.“ Darum spiegelt sich in seinem Werk die ganze russische Psyche in ihrer Vielseitigkeit und unendlichen Differenzierung wie in ihrer Ab- gründigkeit wider. Zeitlebens mit der Lösung des Rätsels Mensch beschäftigt, bot er die tiefste Analyse des russischen Menschen. Die Weltliteratur kennt kein zweites Beispiel einer solchen nationalen Selbstanalyse. Shakespeare war nicht nur Engländer, Goethe nicht nur Deutscher — Dostojewski aber war nur Russe.

Nirgendwo in Europa war das heidnische Element (nicht das hellenisch dionysische, sondern das urslawische und skythische) so wirksam wie im russischen Volkscharakter, und doch ließ sich anderseits auf kein anderes Land das Beiwort „heilig“ anwenden. Im Volksbewußtsein war und blieb Rußland das „Heilige Rußland“. Das ganze geistige Sein des Volkes, das oft zu äußersten Verneinungen, ja zu unwahrscheinlichen, geradezu satanischen Gotteslästerungen neigte, drehte sich um die Religion als einzige Achse. In Dostojewski aber vereinigten sich alle die Gegensätze und Widersprüche und drängten zu einer Harmonisierung. Sein geistiger Weg war schwierig: durch einen verzweifelten Kampf gegen Gott gelangte er allmählich zu einer uneingeschränkten Lobpreisung Gottes. In seiner reifsten Schaffenszeit — von Schuld und Sühne an — erfaßte er das Religiöse immer tiefer, bewußter und bejahter als den Kern seines Wesens. Sein letztes Werk, Die Brüder Karamasow, sollte bezeugen, daß ein reiner, idealer Christ nicht ein abstraktes Ding, sondern sichtbar, wirklich, möglich sei, und daß das Christentum die einzige Zuflucht der russischen Erde aus allen ihren Übeln bedeute. Dostojewski stellte sich gegen die Kirchen und erhob Anspruch darauf, die Lehren Christi unmittelbar und allein vom Evangelium zu empfangen. Die Episode vom „Großinquitor“ enthält die schärfste Absage an eine institutionelle Kirche. Man darf ihn den „größten religiösen Revolutionär“ nennen , der von einer inbrünstigen Liebe zu Christus erfüllt war, wenn auch sein Glaube an Christus, „sein Hosiana“, durch das große Fegefeuer der Zweifel hindurchgegangen war.

In zwei Jahrzehnten — von 1861 bis 1881 — erschienen neben Novellen, politischen, sozialen und kulturellen Aufsätzen die großen Romane. Schuld und Sühne, die Geschichte Raskolnikows, war die Geschichte eines Verbrechens, das jenen nach Sibirien brachte. Raskolnikow, der exzentrische Mensch, der sich selbst zum Titan erheben wollte, erlebte dort eine seelische Wiedergeburt und fand in eine Religiosität der Reue, des Bekehrens, der Hinnahme des Göttlich-Irdischen zurück. Zermürbende Sorgen und drohender Wahnsinn zwangen Dostojewski, ein entscheidendes Werk zu versuchen, an das er sich sonst nicht herangewagt hätte, die Wiederbelebung Christi im Fürsten Myschkin — im Roman Der Idiot. In Myschkin wollte er „einen wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen“ darstellen, in ihm verkörperte er am reinsten sein Denken, seine Ethik. In der Meisternovelle Der ewige Gatte gestaltete er die endgültige künstlerische Abrechnung mit seiner ersten Ehe, bevor er den russischsten aller seiner Romane, Die Dämonen, schrieb. Sie waren die unmittelbare Fortsetzung von Schuld und Sühne: Der notwendige Weg der Gottlosigkeit von der Einzelfreveltat, „um sich Gottes zu bemächtigen“, zum systematischen Meuchelmord um des Menschenheiles willen. Es war das Buch über den Atheismus und den ideologischen Anarchismus, über die totale Aushöhlung des Menschlichen und die prophetische Ankündigung des Kommenden. „Nun, und dann wird der Aufstand beginnen!“ hören wir den abscheulichen Piotr Werchowenskij sagen. „Ein Wanken und Schwanken, wie es die Welt noch nie gesehen hat…Dunkel und finster wird das Antlitz Rußlands, und die Erde wird ihren alten Göttern nachweinen.“

Wersilow, der russische Edelmann und enttäuschte liberale Westler, eine Bekenntnisgestalt Dostojewski in dem längst nicht genug gewürdigten Roman Der Jüngling, träumt den Traum von der seligen letzten Zukunft des Menschengeschlechtes im „goldenen Zeitalter“. Er spricht über die Engländer, Franzosen und Deutschen und meint, daß sie nur dann der ganzen Menschheit dienen können, wenn sie soviel wie nur möglich Engländer, Franzosen und Deutsche bleiben. Und dann fügt er etwas Bedeutsames hinzu: „Nur der Russe allein hat…die Gabe erhalten, eben dann am meisten Russe zu sein, wenn er am meisten Europäer ist…“ Der Gedanke von der besonderen Sendung des russischen Volkes kehrt in der großartigen Rede Dostojewskis zur Puschkin-Feier in Moskau (ein halbes Jahr vor seinem Tod) wieder.

Die Summe seines Lebens enthält der letzte vollendete Roman Die Brüder Karamasow. Dieses gewaltige Epos von mehr als eineinhalbtausend Seiten war nur als ein Anfang gedacht zu ungeschriebenen, von Menschenkraft wohl nicht zu schaffenden Werken, die schon in ihren vollendeten Teilen eigentlich keine Epen sind, sondern kolossale Dramen, visionäre, in die Zukunft weisende Schöpfungen. Der Karamasow-Ro- man war Dostojewskis Vermächtnis an die Menschheit, die Puschkin- Rede sein Vermächtnis an die russische Jugend:

„Echter Russe sein bedeutet nichts anderes als: danach streben, die europäischen Widersprüche endgültig zu versöhnen, der europäischen Sehnsucht den Ausweg in der russischen allmenschlichen und allverneinenden Seele zu zeigen… und schließlich vielleicht auch das letzte Wort der großen allgemeinen Harmonie auszusprechen, der brüderlichen endgültigen Einigung aller Völker nach dem Gesetz Christi und des Evangeliums.’

Dostojewski starb am 28. Jänner 1881. Sein Tod war sanft, sein Leichenbegängnis eine Kundgebung.

Man hat ihn verkannt und verkennt ihn noch heute. Das Verhalten der offiziellen Sowjetunion zu diesem umstrittensten aller russischen

Klassiker schwankte heftig. Der kommunistischen Zukunftsgesellschaft fehlte jede Orientierung auf das Geheimnisvolle, Irrationale, das nun einmal zur Aura des Visionären gehört. Darum blieb man um die metaphysische Vertiefung des flachgewordenen kommunistischen Weltbildes mit Hilfe des eher genehmen Tolstoi bemüht, um die verlorene Dimension irrationaler Verheißung wiederzugewinnen. Dabei fand so etwas wie eine Gleichsetzung seines Gottesreiches mit dem kommunistischen Paradies auf Erden statt. Das hörte sich in der offiziellen Fassung also an: „Jedes Wort in der philosophischen Terminologie Tolstois bis hin zu dem für unser Zeitempfinden so fernstehenden Begriff des Reiches Gottes, findet sein vollwertiges Synonym im Wortschatz des heutigen kommunistischen Humanismus.“ Tolstoi, dessen Werke seit 1917 eine Gesamtauflage von bisher weit über 60 Millionen Exemplare ereicht haben, unterlag nie jenem dialektischen Ausdeutungsprozeß wie Dostojewski. Der war im Urteil Gorkis ein reaktionärer Finsterling, ein rabiater Chauvinist, Prediger der Demut und Feind des Fortschritts, ein „Genius zweifellos, aber unser böser Genius“. Und auch Lenin gestand zähneknirschend ein, daß der „schlimme Dostojewski…tatsächlich ein genialer Schriftsteller war“. Seine Werke wurden nicht gerade verboten, aber auch nicht gefördert.

Während des zweiten Weltkrieges wurde die Dostojewski-Finsternis etwas erhellt, als man den früher Geschmähten als den großen Deutschenhasser, als Bekämpfer faschistischen Hochmuts in dem amoralischen Übermenschentum eines Nietzsche feierte. Nach 1945 setzte dann unter Schdanow eine neue und totale Dostojewski-Finsternis ein, und erst die Entstalinisierung brachte seine Rehabilitierung. Sein 75. Todestag 1956, der ungefähr in die Zeit des denkwürdigen XX. Parteitages fiel, wurde zum internationalen Gedenktag erklärt. Vor allem wurden seine Werke freigegeben. 1955 war bereits eine Auswahl in der schwindelerregenden Auflage von 1,700.000 Exemplaren erschienen und sofort vergriffen. Zwischen 1956 und 1958 wurde dem russischen Volk die vollständige zehnbändige Ausgabe seiner Werke (Auflage 300.000) beschert. Das war der große Umschwung in der Beurteilung Dostojewskis in der Sowjetunion. Der marxistische Literaturkritiker Georg Lukäcs sprach in einem Essay über Dostojewski (zuletzt als Taschenbuchausgabe 1969 erschienen) von den „zentralen, weiterführenden, aufwühlenden und perspektivenreichen Fragen“, die Dostojewski „in der Krisenzeit seines Landes, ja der ganzen Menschheit, in dichterisch entscheidendem Sinn“ zu stellen befähigt war.

Dostojewskis Werk überschreitet die Grenze des Deutbaren, weil es ein Stück der noch unenthüllten Zukunft enthält. Zwar kann man poli tische oder weltanschauliche Deutungen an ihm versuchen; man kann tiefenpsychologische Untersuchungen anstellen und wird dabei die kühnsten Thesen der neuesten Psychologie vorweggenommen finden, aber ausdeuten läßt sich auf diese Art das gewaltige Werk Dostojewskis nicht. Man wird ihn immer wieder lesen müssen.

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