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Russen und Bulgaren

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An drei Abenden konzertierte im Großen Musikvereinssaal das Staatliche Symphonieorchester der UdSSR aus Moskau mit zwei verschiedenen Programmen. Auf dem des ersten, geleitet von Eugen Swetlanow (der zum ersten Mal bereits im November 1970 hier dirigiert hat) standen ausschließlich Werke russischer Komponisten. Als „Ouvertüre* die Konzertphantasie „Eine Nacht auf dem kahlen Berg“ von Mussorgsky, deren Instrumentation Rimsky-Korsakow vollendete: ein ziemlich lärmender, typisch programmusikalischer Reißer (der übrigens von Liszt’s „Tontentanz“ inspiriert ist) und der vom Orchester mit entsprechender Vehemenz vorgetragen wurde. — Hierauf spielte Eugen Mogilewskij, ebenfalls Moskauer und bereits 1964 mit dem 1. Preis des Königin-Elisabeth-Musikpreises (Brüssel) ausgezeichnet, das 3. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninova, das dieser in den Jahren 1908 bis 1909 speziell für eine Amerikatournee für sich selbst schrieb: im ganzen weniger persönlich und expressiv als das 2. Klavierkonzert, dem man auch bei uns den Vorzug gibt, das aber insofern recht originell ist, als die drei Sätze weniger untereinander kontrastieren, als daß vielmehr jeder eine kleine Symphonie mit Klavier darstellt. — Von dem Solisten verlangt Rachmaninow, der selbst ein großer Virtuose war, eine gewaltige Akkord-Akrobatik, für die er ja bereits in seinem ersten Klavierwerk, dem Prelude cis-Moll, das ihn berühmt machte, eine große Vorliebe zeigte. Ihren Anforderungen vermochte der etwa 30jährige Pianist, dem es aber auch an Lyrismus nicht fehlte, voll zu entsprechen. Den Abschluß bildete Schostakowitsch’s 9. Symphonie, in einem glücklichen Monat des Jahres 1945 komponiert, fünfsätzig, eine knappe halbe Stunde dauernd, mit drei Teilen, die Scherzo-Charakter tragen: leichtgewichtig, übermütig, witzig, burschikos, in der das Orchester seine ganze Virtuosität ins Spielbrhtden .fconrite, an der Spitze der 1. Konzertmeister, ein großer alter Mann am Pult, in jeder Hinsicht.

Das zweite Programm leitete Dimitrij Kitaenko, in Leningrad geboren, dort und zuletzt in Wien ausgebildet, 1969 Karajan-Wettbewerb- Preisträger, auch als Interpret neuerer Werke bekannt, in Wien erst mals im Juni 1970 am Pult des Großen Musikvereinssaales. Bereits seine „Don-Juan“-Interpretation zeigte die Begabung zum Pultvirtuosen, das Orchester spielte mit Bravour und Intensität, wobei die 12 Celli dem genialen Jugendwerk von Richard Strauss zusätzliche So- norität verliehen. Von kaum zu überbietender Präzision: die Kontrabässe. Und hier, wie in den nachfolgenden Werken, kein einziger Bläser-Gickser. Sehr sorgsam begleitete Kitaenko den aus Leningrad stammenden Solisten des 1. Klavierkonzerts e-Moll von Chopin. Auch Grigorij Sokolow ist Preisträger, und zwar des Moskauer Tschai- kowsky-Wettbewerbes und hat schon in der halben Welt konzertiert. Man meint, der junge, ein wenig rundlich wirkende Mann sei hauptsächlich Lyriker. Aber in einer Draufgabe — einem von Strawinsky selbst für Klavier arrangierten überaus schwierig auszuführenden Tanz aus „Pe- truschka“, demonstrierte er auch Härte und Energie. — Eine Kraftprobe für Orchester und Dirigenten bedeutete die den 2. Teil des Konzertes bildende 4. Symphonie von Brahms, den von allen romantischen Komponisten der Wiener Schule durch „Ausländer“ am schwersten zu interpretierenden Symphoniker. Aber Dirigent und Orchester sind dem großen Werk kaum etwas schuldig geblieben, es wären denn: die Zwischentöne und die gleitenden Übergänge. Eine gewisse Neigung zur Wildheit, zu dynamischen und agogischen Extremen, war klug in Grenzen gehalten, und hier erst erwies sich das Moskauer Orchester als ein Ensemble von Weltklasse.

Eine echte, und zwar hocherfreuliche Überraschung, boten die Sofioter Solisten, ein aus zwölf Streichern bestehendes Ensemble, dem fallweise auch noch einige weitere Instrumen- talisten oder Sänger beigezogen werden. Ihre Berühmtheit, die von Moskau und der DDR bis Paris und London reicht, danken sie vor allem ihrem etwa 35jährigem Dirigenten Wassil Kasandjev, der auch als Komponist mit einer fünfsätzigen Suite mit dem Titel „Bilder aus Bulgarien“ vertreten war: beachtlich „modern“, obwohl auf Volksmusik basierend, so, wie Bartök, wenn er heute noch lebte, Ähnliches machen würde. Außer dem Stammensemble waren noch zwei Damen an vielerlei Schlagwerk tätig, und es gab Röhren- und Kuhglqcken (wie sie ja auch Mahler verwendet) Kastagnetten und Tamburins. Die Aleatorik, von der Kasandjev gelegentlich Gebrauch macht, findet in der bulgarischen Volksmusik echte Wurzeln: diese kennt ja ursprünglich keine Tonalität (also auch kein Dur und Moll) und basiert auf unregelmäßigen, asymmetrischen Rhythmen, die auch die Melodik bestimmen. — Eingeleitet wurde das Konzert mit einer vier- sätzigen Streichersuite des großen bulgarischen Altmeisters und Staatskomponisten Pantscho Wladigerov, Jahrgang 1899, in Sofia ausgebildet, viel in der ..Welt; ügrum ekqowBen und, seit 1944, mit allen nur denkbaren Ehrungen ausgezeichnet. Denn er verkörpert jenen Stil, der bei allen unseren östlichen Nachbarn der genehmste ist: den eines auf der Folklore basierenden idealisierten Realismus.

Clou des Konzertes war jedoch die Wiener Erstaufführung von Dimitrij

Schostakowitschs 14. Symphonie, die eigentlich ein Liederzyklus mit Zwischenspielen ist und der ohne Zweifel Mahlers „Lied von der Erde“ und die „Kindertotenlieder“, die Schostakowitsch genau kennt, als formales Vorbild gedient haben. Die Streicher waren auf etwa 20 erweitert, dazu kamen Xylophon, Holzblöcke, Röhrenglocken, Triangel und anderes, aber keine Pauken. Was wir mit Erstaunen und Freude hörten, war ein ganz neuer Schostakowitsch: fein, transparent, elegisch, kammermusikalisch und ausdrucksvoll, den Texten angemessen, aber noch nicht ganz persönlich profiliert. Die größte Überraschung aber bildete wohl die Textauswahl: die 11 komponierten Gedichte stammen von Lorca (als erstes „De profundis“) von Guillaume Apollinaire, einem nicht zu identifizierenden Lyriker namens Küchelbecker („O Delvig, Delvig! Was ist der Lohn für große Taten und für Verse?“) und von R. M. Rilke (und zwar eines seiner bedeutendsten Gedichte: „Der Tod des Dichters“ und als Schlußstück: „Der Tod ist groß“)

Von großem Leid, Liebe, Vergänglichkeit und Tod sangen also die mit unüberhörbarem dramatischem Talent begabte vorzügliche Sopraiiistin Milkana Nikolova und der ausdrucksvolle weiche Baßbariton Pa- ioel Gerdshinkov. (Leider nicht in der Originalsprache der Texte). Und dazu erklang eine Musik, die so gar nicht optimistisch, dafür aber recht progressiv war …

Da es sich bei dem besprochenen Konzert um eine Veranstaltung anläßlich des 30. Geburtstages der Bulgarischen Volksrepublik handelte, soll auch ein am nächsten Vormittag in der Bulgarischen Botschaft vor geladenen Gästen 1 gegebenes etwa einstündiges Konzert nicht unerwähnt bleiben, da erst in den prunkvollen Räumen in der Schwindgasse, die eine hervorragende Akustik haben, erst so ganz die Kostbarkeit und Fülle des Klanges der Sofioter Solisten zur Geltung kam, wenn auch zuweilen an kuriosen Objekten demonstriert, nämlich an Bearbeitungen von kurzen Stücken (zum Teil Vortragspiecen), von Muf- fat, Bach, Schubert, Schumann, Tschaikowsky und — noch einmal — Schostakowitsch.

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