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Rußland — das ist nicht Europa

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Die Bedeutung der geographischen Physiognomie eines Landes wird leicht unterschätzt. In Rußland wiegt der eigentümliche Charakter der Landschaft doppelt schwer — einmal durch ihre große Ausdehnung, die sich in endlosen Tautologien immer aufs neue bestätigt, aber auch durch die Stellung, die Rußland nach dem geordneten, in vielerlei Zusammenhängen miteinander verbundenen und gut abgesicherten Europa und einem sehr fraglichen Asien, weit entfernt und erfahrungsmäßig schwer faßbar, einnimmt.

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Die Bedeutung der geographischen Physiognomie eines Landes wird leicht unterschätzt. In Rußland wiegt der eigentümliche Charakter der Landschaft doppelt schwer — einmal durch ihre große Ausdehnung, die sich in endlosen Tautologien immer aufs neue bestätigt, aber auch durch die Stellung, die Rußland nach dem geordneten, in vielerlei Zusammenhängen miteinander verbundenen und gut abgesicherten Europa und einem sehr fraglichen Asien, weit entfernt und erfahrungsmäßig schwer faßbar, einnimmt.

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Die Zweifelhaftigkeit dieser Situation führt zwar dazu, daß in Rußland von „Europa“ im Gegensatz zu „Rußland“ gesprochen wird, also Europa ganz klar als etwas Verschiedenes erkannt wird, Rußland als solches jedoch nicht fähig ist, sich selbst geographisch oder gar sonst irgendwie zu definieren. Dieses unbestimmte Asien liegt ja weit hinter Rußland, aber die Vorstellung, Rußland als europäisches Anhängsel zu sehen, ruft der Größenverhältnisse wegen doch eher überhebliches, wenn auch unsicheres Lachen hervor. Und ganz abgesehen davon, daß Rußland in sich selbst unbegrenzt ist, da die Weite des Landes durch keinerlei geographische Großformen strukturiert wird, legt ihm auch die „Umgebung“ nur wenig Begrenzungen auf, weshalb es seine administrativen Grenzen verschieben konnte, soweit seine Kräfte reichten, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Denn das klare, durchstrukturierte Europa verliert gegen Osten immer mehr an Selbstsicherheit, wird merkwürdig kraftlos und kann dem russischen Großraum nur wenig Halt geben. Im Norden, Osten, Südosten aber löst er sich ganz von selbst ins Maßlose auf. Der Ural ist wegen der Beiläufigkeit seiner Erhebungen als Grenze nicht geeignet, und dahinter setzt sich die Weite ja nur in übersteigerter Form fort. Einzig im Süden liefern die alten kaukasischen Kulturvölker durch ihr zwar fremdartiges, aber saftig-buntes Eigenleben ein wenig Möglichkeit zu einem fruchtbaren Miteinander. Manchmal, so im Westen, südlicherer Abschnitt, entstehen an der Berührungsfläche Rußlands und Europas eigenartige hybride Zwischenformen, ein folkloristisch bewegtes Hügelland, in dessen abgeschiedenen schattigen Tälern Vampire wohnen und die trotz ihrer Armut den Nährboden für die Entstehung mysteriöser Sekten und prächtig dunkler Heilslehren boten.

Eingebettet in zerfließende Grenzenlosigkeit, sich selbst überlassen in seiner Ungeformtheit, jagt das Land dahin, in weitreichenden Bodenbewegungen den Raum auffressend. — Rußland ist nicht eben. Zwar gibt es in Rußland natürlich Ebenen, aber nicht anders als es sie überall gibt, vielleicht sogar in der Schweiz. Eine Ebene ist nämlich nicht „weit“, sondern im Gegenteil zumeist eine sehr kleinräumige Landschaft, deren reißende Perspektive dem Auge wenig Freiheit läßt und den Horizont fast in Griffnähe heranrückt. Außerdem ist die Ebene, gerade wegen ihrer ebenmäßigen Form, eine in hohem Maße geordnete Landschaft. Rußlands Geographie dagegen ist nur in sehr niedrigem Maße geordnet und enthält einen hohen Grad von Freizügigkeit. Die Bewegungen des Landes holen immer das Letzte aus sich heraus und nicht selten gelingt es ihnen, auch den Horizont in verschwindende Ferne fortzureißen. Eine Welle folgt auf die andere und so weiter und weiter in einem Ausmaß, das jede Vorstellungskraft verblassen läßt, und manchmal, an gewissen Stellen Sibiriens vielleicht, verfallen sie überhaupt in Wahnsinn und reißen megalomane Riesenräume auf, die sich durch ihre Überdimen-sioniertheit fast selbst zerdrücken oder jeden Augenblick einzustürzen drohen.

Die Raumwellen folgen dabei keiner Ordnung und entsprechen keiner festen logischen Figur. Die geologischen Formationen, die in Europa mit solcher Kunstfertigkeit allerlei interessanten intellektuellen Spielereien frönen, lassen davon ab, ziehen sich ins Erdinnere zurück und überlassen das Land sich selbst, das, unbesetzt von durchdachten Konturen und feinziselierten Horizonten, in einen wilden und oft nicht ungefährlichen Freiheitstaumel verfällt. Die so entstehenden Räume sind durchaus unheimelig, sie lassen es nicht zur Ausbildung ästhetischer Ruheplätzchen und geschützter Winkel kommen, sondern, sich selbst preisgebend, offen in ihrer Entfaltung, provozieren sie zugleich Gewalt, da ihre Offenheit der eigenen Freiheit gegenüber zu groß ist, um sie, wie gewonnen, so zerronnen, auf irgendeine Weise benutzbar, bewohnbar, begehbar gestalten zu können.

In den Formen, welche diese Landschaft produziert, verlacht und zerstört sie sich oft selbst. Auf weite Strecken gibt sie vor, nur schmächtiges, versumpftes Kraut hervorbringen zu können, bietet dann aber wieder großzügige Wälder an, die mit hellem Birkengrün feuchtschimmernd ansetzen, sich tiefer drinnen zu undurchdringlichem Dickicht verfilzen, auf jeden Anfang und jedes Ende vergessen und jeden Horizont hinter sich lassen. Stellenweise sammeln sich riesige Flüsse, verharren unschlüssig einige Zeit lang vor so vielen möglichen Richtungen, wählen dann oft doch die falsche und ertränken jedes Frühjahr sinnlos weite Flächen.

Nicht immer reicht die Kraft dei mit so viel Aufwand begonnenen räumlichen Geste aus, den Horizonl wegzuwischen, ihn ins Unbestimmte zu verlegen. Dann bricht sie in einem gewaltsamen Steilabfall in sich zusammen. Auf den ersten Blick scheint sich so ein Steilabfall in fester, formbildender Absicht dahinzuziehen und gebieterisch zu versuchen, eine Grenze zu setzen und dem Feld einen festen Platz, nämlich unten, zuzuweisen. Aber sehr bald gerät ihm Unten und Oben und jede feste Ordnung außer Kontrolle und er verliert sich spurlos. Das regellose Auftreten und unerklärliche Verschwinden dieser unvermuteten Schluchten und seichten Abgründe verrät deutlich den chaotischen Zustand der ganzen Gegend. Die Brüche spielen insofern eine wichtige und interessante Rolle in der Landschaft, als sie gewisse in ihr enthaltene Elemente menschlicher oder natürlicher Herkunft hervorheben und ihnen eine besonders konkrete Bedeutsamkeit zuweisen. Die Prägnanz dieser Landschaftsteile mag der Grund dafür sein, daß gerade an ihnen Kirchen entstanden, in deren architektonischer Organisation sich die äußerste menschliche Anspannung, aus dem Chaos der un-geformten Landschaft eine vollkommene Struktur zu bilden, in harmonischer Schönheit verwirklicht. Die russische Architektur, deren fast ausschließliches Ausdrucksmittel Sakralbauten waren, entstand häufig ohne ersichtlichen — etwa demographischen — Grund an Orten, wo ihr Vorhandensein ganz offensichtlich einzig einer optimalen Raumorganisation dient.

Ein weniger bewußtes, aber sehr bezeichnendes menschliches Gestaltungsmittel der Landschaft ist die Landstraße. Unnötig zu betonen, daß sie übermäßig breit ist und sich an den Rändern erst einmal ins Ungewisse verliert, bevor ihr ein nachlässig gezogener Straßengraben eine Grenze setzt. In unmerklicher Bie-sune und kaum SDÜrbarer Persrjektive zieht sie über den ersten Horizont hinweg, schiebt sich zum nächsten, schon untertauchenden vor, bis sie endlich langsam vom Raum verschlungen wird. Die Straße, betritt man sie, scheint im ersten Moment von gerader Gleichgültigkeit, doch der Schein trügt und immer schneller reißt ihre erst nicht wahrgenommene Krümmung den nicht darauf Gefaßten mit sich fort. Das Fernweh, das für die russische Landschaft so charakteristisch ist, kommt in der Straßenführung in konzentrierter Form zum Ausdruck.

Die Zahl der Elemente, die diesen Raum bevölkern, ist niedrig, die Variationsbreite ihrer Beschaffenheit nicht sehr groß. Weder in der Farbe noch in der Form läßt sich die Natur zu Bildungen hinreißen, die einen allzu sehr ins Auge fallenden Eigenwert beanspruchen. Die Pflanzenwelt ist zumeist zurückhaltend und bescheiden, frei von jeder üppigen Extravaganz. Einzig im späten, aber stürmischen Frühling gibt sie sich einem ungehemmten Ausbrechen hin. Kein Punkt oder Element der Landschaft ist fest an seinen Ort gebunden, die offene Form des Raumes verlangt von den Dingen nicht, sich ruhig zu verhalten, einander zu schützen oder überhaupt einen Interessenverband irgendwelcher Art miteinander einzugehen. So bildet der Raum zwar keine Hierarchien aus und läßt den Dingen jede Freiheit, anderseits schützt er sie auch nicht und scheint sich überhaupt wenig um sie zu kümmern. Diese gleichgültige Grundhaltung gegenüber einer differenzierten individuellen Entwicklung und der Ausbildung eines geordneten, funktionsorientierten Zusammenlebens macht sich allerorts bemerkbar. Sie hat generell ein Landschaftsbild zur Folge, in dem der Zufall sein eintönig-wildes Spiel treibt, schließt aber gerade wegen seines hohen Unordnungsniveaus auch die

Entstehung harmonisch geschlossener Landschaftsteile, die im mitteleuropäischen Sinne als schön gelten, durchaus nicht aus.

Den gleichen Gesetzen unterliegt die Beschaffenheit menschlicher Siedlungen. Aufgereiht an den Landstraßen oder auch hineingestreut in die Leere, sind sie in ihrer Bauweise von einer schwächlichen Vorläufigkeit, die jeder der Landbevölkerung sonst so gern zugesprochenen Heimatverbundenheit Hohn spricht. Hingewehte schmale Häuschen aus schnell verwittertem Holz, dem Sog des Raumes und dem Druck des Klimas nur mit Mühe standhaltend, geben sie bald nach, sinken seitlich zusammen und erreichen einen Zustand schwer bestimmbaren Zerfalls, in dem sie dann geduldig verharren. Es scheint, als seien sie absichtlich nicht allzu fest und für lange Zeit gebaut, damit sie leichten Herzens verlassen werden können. Ihre von Anfang an lädierte Existenz verhindert eine feste Verwurzelung in ihrer landschaftlichen Umgebung, läßt keine erdverbundene Seßhaftigkeit aufkommen und hebt sie in den allgemeinen zufälligkeitsbestimmten Zustand des Raumes hinein.

Die angestellten Beobachtungen über die räumliche Struktur der Geographie Rußlands lassen sich mit Leichtigkeit auf die historische Situation des Landes übertragen. Deutlich ist die niedrige strukturelle Durchbildung des Systems, das sich zugleich in freier Bewegtheit befindet, einerseits von ständiger Auflösung bedroht, anderseits beherrscht von einer starken Tendenz nach Vereinheitlichung oder nach Ausbildung einer höheren umfassenden Struktur. Dieses Spannungsverhältnis manifestiert sich in der vereinzelten Entstehung hochstrukturierter zivilisatorischer „Türme“, die sich in einer Landschaft dämmernder Monotonie, untermischt mit kleinen oder größeren anarchistischen Explosionen, erheben. Das Gleichgewicht, in das sich das System ständig einzupendeln hat, ist naturgemäß labil, und so kommt es nicht selten zu einem Ansteigen der Auflösungstendenz über die Toleranzgrenze, was eine Verstärkung des Wunsches nach Vereinheitlichung hervorruft. Je nötiger die Vereinheitlichung also empfunden wird, desto unwahrscheinlicher ist aber ihre „natürliche“ Entstehung und deshalb erfolgt sie dann auch in totalitärer Form: einer beschränkten und jedenfalls zu geringen Anzahl von willkürlich ausgewählten Faktoren wird die bestimmende Rolle bei der Strukturierung des Systems zuerkannt. Dabei geht es natürlich nicht ohne allerlei Gewalttätigkeit ab. Die auf diese Weise errichteten Überstrukturen können trotz ihrer totalitären Beschaffenheit das System auf manche Weise bereichern. Sie können sich dann im Lauf der Zeit mildern und sich in den leicht veränderten Normalzustand des Systems auflösen, oder aber sie können für lange in ausgehöhlter Form versteinern und auf die weitere Entfaltung hemmend wirken. Der Sowjetkommunismus ist insofern eine ganz typische Episode in Rußlands geschichtlichem Wprden.

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