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Rußland gehörte zum Westen

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Johannes von Guenther, 1886 in Mitau, der Hauptstadt des russischen Gouvernements KuHand, geboren, ist einer der letzten lebenden Zeugen einer Blütezeit der russischen Literatur und intensiver ost-westlicher Beziehungen. In dem Buch „Ein Leben im Ostwind" schildert er die ersten dreißig Jahre seines Lebens: die Kindheit in den „Baltischen Provinzen" mit ihren deutschsprachigen Städten Mitau, Riga und Dorpat, das Zusammen- bezie-hungsweise Nebeneinanderleben von Deutschen, Esten, Letten und Russen sowie die eigentümlichen sozialen und nationalen Verhältnisse. Obwohl zahlreiche Balten Minister und Generäle waren und hoiie Chargen am Zarenhof bekleideten, blieb man „unter sich" und fuhr von Mitau „nach Rußland".

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Johannes von Guenther, 1886 in Mitau, der Hauptstadt des russischen Gouvernements KuHand, geboren, ist einer der letzten lebenden Zeugen einer Blütezeit der russischen Literatur und intensiver ost-westlicher Beziehungen. In dem Buch „Ein Leben im Ostwind" schildert er die ersten dreißig Jahre seines Lebens: die Kindheit in den „Baltischen Provinzen" mit ihren deutschsprachigen Städten Mitau, Riga und Dorpat, das Zusammen- bezie-hungsweise Nebeneinanderleben von Deutschen, Esten, Letten und Russen sowie die eigentümlichen sozialen und nationalen Verhältnisse. Obwohl zahlreiche Balten Minister und Generäle waren und hoiie Chargen am Zarenhof bekleideten, blieb man „unter sich" und fuhr von Mitau „nach Rußland".

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Johannes von Guenther, einer aus Ponunem eingewanderten Beamtenfamilie entstammend, begann sehr frühzeitig, noch als Gymnasiast und junger Student, seine Laufbahn als „Literat". Seine Anfänge fallen in die Zeit der ersten tiefgreifenden revolutionären Unruhen der Jahre 1905 bis 1909. Er selbst schreibt Gedichte und Theaterstücke, aber bald erkennt er seine eigentliche Aufgabe: als Übersetzer Vermittler zu sein zwischen der aufblühenden symbolistischen Schule (in Moskau und Petersburg) und Deutschland. Nach kurzen Studien in Dresden, wo er den Philosophen Theodor Lessing kennenlernt, macht er seine erste Reise nach St. Petersburg, dem Venedig des Nordens, das er stets Moskau vorzog. Hier verkehrt er im Kreis um Alexander Block und dessen schöner Frau, lernt Grodetzki und W^cheslaw Iwanow kennen und übersetzt ihre Gedichte.

Die russische Schule der Symbolisten hatte als „Überbau" eine Art religiös-mystischen Anarchismus. Nietzsche, George, Henri de Regnier und Maeterlinck sind hier gut bekannt. Literarische Zeitschriften und neue Verlage sprießen wie Pilze aus dem Boden. Im „Skorpion" veröffentlichen Block, Brjussow, Bjely, Iwanow und Sollogub ihre Arbeiten. Von größter Bedeutung ist der „Greif"-Verlag, der Almanach „Die Fackel" und „Die Hören" („Ory"). Sehr anschaulich schildert Guenther auch die beiden großen ‘Regisseure Meyerhold und Stanislawski — als Antagonisten. Neben zeitgenössischen russischen Dichtem spielt man Hauptmann, Maeterlinck und Strindberg. Die Zeitschrift „Das goldene Vließ" soll zweisprachig — russisch und französisch — erscheinen. Im dritten Heft der Zeitschrift „Apollon" erscheint neben einem George-Essay auch Guenthers Dichtung „Der Magier". Iwreinow leitet eine der modernsten und interessantesten Bühnen der damaligen Zeit: „Der Zerrspiegel."

Man erfährt von Guenther, daß Ossiß Dymow eigentlich Ossip Issi-dorowitsch Perlemann geheißen hat und daß der Großfürst Konstantin Konstantinowitsch in der Art der französischen Pamassiens dichtete und stolz darauf war, ins Deutsche übertragen zu werden. Eine merkwürdige Figur ist der Graf Alexei Nikolaewitsch Tolstoi (nicht ganz geklärter Herkunft): Er emigrierte, als Erzfeind der Revolution, bereits 1919 ins Ausland, ließ sich aber schon 1922 durch den russischen Botschafter in Berlin zur Rückkehr verlocken und lebte unter den Sowjets, als Freund Stalins und „Roter Graf", unangefochten bis zu seinem Tod im Jahre 1945. Alexander Mereschkowski löste eine philosophisch-religiöse Welle aus. Aber das konnte einen Kenner der russischen Verhältnisse nicht verwxmdem: „Dieser russische Weg scheint nur unübersichtlich, er ist es nicht einmal: von Nietzsche kommend, mündet er in einen vom Schatten Marx’ berührten dialektischen Idealismus mit revolutionären Sympathien, um dann in einem fast logischen Zick-zafckkurS zur theologisch gefärbten" Parteinahme für eine metaphysisch orientierte Romantik — nicht ohne leisen Nationalismus — zu führen."

Zwischen seinen Rußlandreisen war Guenther immer wieder in Deutschland, vor allem in München, wo ihm der Verleger Georg Müller einen Vertrag gibt und ihm, gemeinsam mit seinen Freunden Franz Blei und Ernst Rowohlt, zeitweise ein flottes Leben ermöglicht. Und das alles hatte Guenther mit knapp zwanzig Jahren erreicht, in einem Alter, da andere noch die Kollegbänke drük-ken. Er verdankt diese fast abenteuerliche literarische Karriere nicht zuletzt seinem angenehmen Äußeren, seiner Geschicklichkeit und Unbefangenheit.

Das Zeugnis Guenthers, in hohem Alter niedergeschrieben, ist für uns deshalb besonders wertvoll, weil er wirklich „mitten drin" war im literarischen Betrieb von Moskau und Petersburg, und weil er durch seinen Verkehr mit gebildeten deutschen Verlegern und Literaten (Professor Bie, Moritz Heimann, Bethge, „Neue Rundschau", Fischer- und Müller-Verlag), vor allem aber als Gast bei Wolfskehl im Münchner George-Kreis, als Bekannter von Hofmannsthal, R. A. Schröder und Felix Braun nicht nur umfassend, wenn auch ein wenig oberflächlich informiert war, sondern auch literarische Maßstäbe besaß, soweit sie ein so junger Mensch schon haben kann.

Das Erinnerungsbuch Guenthers, das mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs schließt, der viele seiner Pläne durchkreuzte und ihn von den russischen Freunden für lange Jahre abschnitt, ist ein wichtiges Zeugnis für die west-östlichen Literaturbeziehungen um die Jahrhundertwende. — Nach einer seiner Rußlandreisen kehrt er in die Heimat zurück und muß erkennen, daß er nicht nach Deutschland gehört, Rußland sei das Land der Verheißung. „Ich war in die Höhle der Winde geraten und hatte darin den Ostwind, den starken Morgenwind,

EIN LEBEN IM OSTWIND. Erinnerungen von Johannes von Guenther. Biederstein-Verlag, München. 500.Seiten. DM 25.—.

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