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Rußlands orthodoxe Kirche im Bannkreis des militanten Atheismus

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Seit 60 Jahren steht die russisch-orthodoxe Kirche in Konfrontation mit dem atheistischen Regime der Sowjetmacht. Der Leiter des Ostreferats des Instituts für weltanschauliche Fragen in Zürich, P. Dr. Robert Hotz SJ, stellt uns eine Analyse der Entwicklung dieser 60 Jahre zur Verfügung. Wir stellen.ihr eine Darstellung der sowjetischen Agentur Nowo-sti gegenüber und sind überzeugt, daß unsere Leser sich aus dem Vergleich ihre Meinung bilden können.

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Seit 60 Jahren steht die russisch-orthodoxe Kirche in Konfrontation mit dem atheistischen Regime der Sowjetmacht. Der Leiter des Ostreferats des Instituts für weltanschauliche Fragen in Zürich, P. Dr. Robert Hotz SJ, stellt uns eine Analyse der Entwicklung dieser 60 Jahre zur Verfügung. Wir stellen.ihr eine Darstellung der sowjetischen Agentur Nowo-sti gegenüber und sind überzeugt, daß unsere Leser sich aus dem Vergleich ihre Meinung bilden können.

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Die russisch-orthodoxe Kirche glich seit dem 18. Jahrhundert einer belagerten Festung, innerhalb deren Mauern noch eine gewisse Selbständigkeit gewährleistet war. Seit der kommunistischen Machtergreifung präsentiert sich das Moskauer Patriarchat jedoch als eine erstürmte Festung, in der die Feinde jede Bewegung zu kontrollieren vermögen.

Was der russisch-orthodoxen Kirche im Verlaufe von 60 Jahren kommunistischer Herrschaft widerfuhr, läßt sich erahnen, wenn man die letzten offiziellen Zahlen von 1914 mit den -inoffiziellen - von 1977 vergleicht. An Stelle von 43.515 Kirchen und 23.593 Kapellen blieben noch 7500 übrig. Zählte man 1914 1025 Klöster, so sind es heute nur rund 25. Die Zahl der Se-minarien schmolz von 57 auf drei, die der Geistlichen Akademien von vier auf zwei zusammen. Im gleichen Zeitraum verminderte sich die Zahl der Priester um über 80 Prozent, die der Mönche und Nonnen um über 95 Prozent. Gleichzeitig aber wuchs die Bevölkerung zwischen 1914 und 1977 von 160 auf 260 Millionen.

Bereits in den ersten drei Monaten ihrer Existenz verkündete die Sowjetmacht die Verstaatlichung des Grundbesitzes, wodurch auch die Kirche ihre materielle Grundlage verlor. Das gesamte Schulwesen wurde der Staatsaufsicht unterstellt, ein ziviles Personenstandsregister und die Zivilehe eingeführt. Schließlich wurde am 23. Jänner 1918 die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche dekretiert.

Vier Tage zuvor hatte der Patriarch in einem Hirtenbrief die Übergriffe der Bolschewiki als ein „satanisches Werk“ gegeißelt Der Bürgerkrieg in dem sich auch viele Geistliche auf die Seite der „Konterrevolution“ stellten, verschärfte die Gegensätze weiter. Die Kommunisten sahen in diesem Faktum einen zusätzlichen Beweis für die nicht nur weltanschauliche, sondern auch politische Gegnerschaft der Kirche.

Um die erschöpften Staatsfinanzen aufzubessern, verfügte das Sowjetregime 1922 die Konfiskation der kirchlichen Wert- und Kultgegenstände. Patriarch Tichon reagierte damit, daß er diese Konfiskation ablehnte, und jedem Laien, der dabei mitwirkte, die Exkommunikation, den Geistlichen die Laisierung androhte.

Dies führte zum offenen Streit mit dem Regime, aber auch zum Bruch innerhalb der Kirche selbst. Es entstand eine Gruppierung, die mit dem Regime zusammenarbeiten wollte und die man unter dem Begriff „Erneuerer“ oder „Lebendige Kirche“ zusammenfaßt. Der Patriarch wurde für 13 Monate inhaftiert und erst freigelassen, nachdem er, um sein auseinanderfallendes Patriarchat vor dem Untergang zu bewahren, eine Loyalitätserklärung abgegeben hatte.

. Als Patriarch Tichon 1925 starb, verhinderten die Kommunisten die Wahl eines Nachfolgers und inhaijjerten alle drei vom Patriarchen nominierten Stellvertreter. Deshalb regierte Metropolit Sergei Stragorodski (1867-1944) die Kirche in der kanonisch anfechtbaren Form eines stellvertretenden Patriarchatsstellvertreters. Die Kommunisten spielten geschickt die verschiedenen Gruppierungen gegeneinander aus.

Nach sechsmonatiger Haft erklärte sich Sergei 1927 bereit, die Unterschrift unter eine Deklaration zu setzen, die von den Gläubigen r auch derjenigen im Ausland - die volle Loyalität zum Sowjetregime forderte. Das Resultat war, daß ein Großteü der Auslandkirche mit dem Patriarchat brach. Aber dafür festigte Sergei seine Position gegenüber der „Erneuerer“-Kirche, die mehr und mehr an Bedeutung verlor. Die Kommunisten jedoch hatten erkannt, daß man die Kirche erpressen konnte, und sie verwenden dieses System bis zum heutigen Tage.

Als der Zweite Weltkrieg begann, stellte sich das Moskauer Patriarchat ganz im Sinne seiner Tradition voll

und ganz auf die Seite der Verteidiger der Heimat. Stalin honorierte diese Haltung damit, daß er dem Moskauer Patriarchat gegenüber plötzlich sehr tolerant wurde. 1944 durften Metropolit Sergei und nach dessen Tod 1945 Metropolit Alexei Simanski (1877-1970) zu Patriarchen gewählt werden. Viele Bischöfe und Priester kehrten aus den Konzentrationslagern zurück. Die Kirche blühte wieder auf und wuchs auf 20.000 Pfarreien mit 25.000 Geistlichen an. Acht Semina-rien und zwei geistliche Akademien öffneten ihre Pforten. Auch 67 Klöster funktionierten wieder. Zudem waren sämtliche 73 Bischöfssitze besetzt.

Dafür muß die Kirche immer mehr als eine Art ornamentaler Schmuck sowjetischer Außenpolitik bei internationalen Konferenzen in Erscheinung treten. Es versteht sich, daß die Kirchendelegationen bei solchen Anlässen nur als Stimme ihres politischen Herren vernehmbar wurden. Doch unter der geschickten Direktion des Metropoliten Nikolai Jaruschewitsch (1892-1961) von Krutizy gelang es der Kirche, durch solche internationalen

Kontakte die labile Stellung im Innern zu stärken.

Dies wurde um so dringlicher, als mit Chruschtschows Machtantritt von 1953 an für die Kirche wiederum harte Zeiten anbrachen. Daß die Kirche wieder an Ansehen gewonnen hatte, paßte nicht ins ideologische Konzept des neuen Parteichefs. Doch da er vorerst mit der Stabilisierung seiner eigenen Macht beschäftigt war, erhielt die Kirche noch eine Atempause bis 1959. Dann aber brach der Sturm los. Der Patriarch reagierte mit der Exkommunikation von apostasierten Priestern, die von den Kommunisten als atheistische Propagandisten eingesetzt worden waren. Außerdem hielt er anläßlich der Abrüstungskonferenz im Februar 1960 in Moskau eine Rede, in der er die Kirche als Begründerin und Erhalterin russischer Eigenstaatlichkeit feierte.

Die Reaktion des Regimes ließ nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig. Bis zur Entmachtung Chruschtschows 1964 wurden 12.000 Kirchen geschlossen, 45 Klöster aufgelöst, die Zahl der Seminarien um fünf verringert, die Studentenzahlen beschränkt. Metropolit Nikolai wurde aus seinem

Amt entfernt und starb 1961 unter ungeklärten Umständen. G. G. Karpow, der seit 1943 als Präsident des Rates für die Angelegenheiten der russisch-orthodoxen Kirche ein relativ gnädiger kommunistischer „Oberprokuror“ gewesen war und zusammen mit Metropolit Nikolai den „modus vivendi“ zwischen Kirche und Staat vermittelt hatte, wurde durch V. A. Kurojedow ersetzt. Dieser hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er im Grunde genommen die Vernichtung der Kirche wünscht.

Im kirchlichen Außenamt übernahm 1960 Bischof. Nikodim Rotov (geb. 1929) die Leitung und erwies sich alsbald als ein wendiger Kirchendiplomat von hoher Intelligenz, der seinem Lehrmeister keineswegs nachstand. Unter Nikodims Aegide, der seit 1961 Mitglied des Heiligen Synods und seit 1963 auch Metropolit ist, erfolgte die konsequente Hinwendung des Moskauer Patriarchats zur Ökumene. 1961 trat die russisch-orthodoxe Kirche dem ökumenischen Rat der Kirchen bei, 1962 entsandte sie als erste orthodoxe Gemeinschaft Beobachter zum II. Vatikanischen Konzil. Mitten

in der Verfolgung hatte man im Moskauer Patriarchat zu verstehen begonnen, daß die internationale Solidarität der Christen eine wirkungsvolle Hilfe und Stütze sein kann.

Mit Chruschtschows Sturz 1964 trat eine Beruhigung im Verhältnis von Kirche und Staat in der UdSSR ein. Wenn sie auch schwere Schläge hinnehmen mußte, so hat die Kirche doch die Verfolgung und den Verfolger überlebt. An Stelle offener Konfrontation versucht das Regime wieder, die Kirche mit administrativen Maßnahmen im Griff zu behalten. So durfte das mit großem propagandistischem Pomp aufgezogene Landeskonzil von 1971 in der Person des Metropoliten Pimen Iswekow (1910) nur einen schwachen und fügsamen Nachfolger des verstorbenen Patriarchen Alexei wählen.

Die Kommunisten empfinden es als eine Bedrohung, daß die Religion und damit nicht zuletzt die russisch-orthodoxe Kirche eine weltanschauliche Alternative zum Marxismus-Leninismus anzubieten hat, welche nach wie vor eine Anziehungskraft auf viele Sowjetbürger ausübt.

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