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Rußlands Stimme

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Zugegeben, wer als Tourist von Moskau nach Peredelkino fährt, dem Schriftstellerdorf im Südwesten der sowjetischen Hauptstadt, bewegt sich außerhalb der Legalität. Ein Visum für Moskau gilt nur innerhalb der Stadt, die vom Autobahnring begrenzt wird. Peredelkino aber liegt jenseits des Rings, wenn auch nur wenige Kilometer.

Ein Tourist, der das Risiko ein- gehen will, zurückgeschickt zu werden, steigt am Kiewer Bahnhof in einen Vorortzug in Richtung Minsk und erreicht nach sechs Stationen Peredelkino. Zehn Minuten Fußweg braucht man, um von dem winzigen Bahnhof an der Klostermauer entlang zu einem der bezauberndsten Orte rings um Moskau zu gelangen: dem Friedhof von Peredelkino. Nach der tosenden Millionenstadt wirkt dieser Flecken Erde wie ein

Geschenk der Natur. Einheimische weisen gern den Weg zu den Gräbern Prominenter.

Im Jahre 1960 wurde hier Boris Pasternak, der Lyriker und Autor des Romans „Doktor Schiwago“, beigesetzt. Der leicht verwitterte Grabstein steht unter drei Kiefern, deren eine vor kurzem bei einem Sturm arg gelitten hat. Nicht weit davon fallen zwei helle, hohe Gedenksteine auf, die wie ein Paar eng beieinander stehen. Es ist das Grab von Kornej Tschu- kowski, dem berühmten Kinderbuchautor, und seiner Frau.

Nur wenige Schritte den Hügel hinunter trifft der Besucher auf die letzte Ruhestätte von Wadim Sidur, dem bekanntesten Bildhauer der Sowjetunion. Zeit seines Lebens hatte er kaum Möglichkeiten, auszustellen. Nur auf wenigen Friedhöfen sind seine Plastiken als Denkmäler geduldet.

Um die Gräber der Großen der russischen Kultur aufzusuchen, muß man nicht nach Peredelkino fahren. Ein Abstecher auf den Wagankowski-Friedhof nahe der Metro-Station „Uliza 1905 goda“ führt zu den letzten Ruhestätten von Wladimir Wyssozki, dem populärsten Liedermacher in der Sowjetunion, und dem Lyriker Sergej Jessenin. Der Besuch dieser Gräber vermittelt einen Eindruck davon, wie sehr die Russen manche ihrer Dichter verehren. Das Denkmal von Wyssozki ist zu jeder Jahreszeit von einem Meer von Blumen umgeben, und unter der schneeweißen Skulptur von Jessenin treffen sich Verehrer und Schaulustige und rezitieren seine Gedichte.

Der Moskauer Neujungfrauen- Friedhof neben dem Neujung- frauen-Kloster ist ohne Zweifel der interessanteste. Allerdings kann man ihn unter normalen Umständen kaum besuchen. Seit die Angehörigen der hier Begrabenen vor wenigen Monaten gegen den freien Zutritt protestiert haben, ist der „Nowodewitschje Kladbischtsche“ wieder wie eh und je für Unbefugte geschlossen.

Wer hineingelassen wird, findet rechts von der Hauptallee jenseits einer Mauer den alten Teil des Friedhofs. Dicht hinter dem Durchgang ziehen das bescheidene Grabmal des Dramatikers Anton Tschechow und die hohe Standfigur Nikolai Gogols die Blicke auf sich. Exakt sechs Grabreihen von Gogol entfernt in Richtung Haupttor liegt ein unscheinbares Grab, das man nicht übersehen- sollte. Michail Bulga- kow, dem Verfasser des Romans „Der Meister und Margarita“, hat man nach dem Krieg das alte, zum Abbruch freigegebene Grabmal Gogols zugedacht. Mit dem Kreuz nach unten grub man es in die Erde ein und befestigte die Inschrift auf dem narbigen Sockel des Go- golschen Denkmals.

Der alte Friedhof ist wohl der schönere Teil, denn die Gräber sind mit wenigen Ausnahmen angemessen, ja bescheiden.

Im neuen Teil des Friedhofs er warten die Größen des Sowjetstaats den Besucher. Wer auch immer ein wichtiges Amt in Partei oder Staat, Wirtschaft oder Wissenschaft bekleidet hatte: nach dem Tod wurde sein Konterfei, lebensecht und aus den besten Jahren, in Marmor oder Granit gehauen und auf eine mannshohe Säule gestellt.

Besonders die Gräber der unter Chruschtschow und Breschnew Verstorbenen offenbaren einen Stolz, der seinesgleichen sucht. In voller Uniform blicken Armeegeneräle dem Besucher fest in die Augen, als lebten sie noch und stiegen im nächsten Moment von ihren Sockeln herab. Kleine, unbedeutende Menschen machen sich dazwischen zu schaffen, ordnen Blumen, räumen Laub beiseite und wirken beruhigend normal.

Zwischen diesen steinernen Größen liegen jene begraben, die wirklich bedeutend waren, an die man sich auch in dreißig oder fünfzig Jahren noch erinnern wird. Nicht jedes Grabmal von ihnen ist so auffallend wie das von Fjodor Schaljapin, dem großen Sänger, der 1938 in der Emigration gestorben ist. 1984 veranlaßten die

Angehörigen, daß seine letzte Ruhestätte von Paris nach Moskau verlegt wurde.

Jedes Grabmal auf dem „Nowodewitschje Kladbischtsche“ könnte seine eigene Geschichte erzählen. Warum liegt auf dem Grab des Lyrikers Alexander Twardowskj, Chefredakteur von „Nowy mir“, nichts als ein schwerer Findling? 1st es eine Anspielung auf seine erdrückend schwere Arbeit, die Literaturzeitschrift noch unter Breschnew lange Jahre auf „Tauwetter“-Kurs gehalten zu haben?

Das wohl schönste Denkmal hat der Schriftsteller Sergej Sergeje- witsch Smirnow erhalten. Von eher unbedeutendem literarischem Rang, hatte Smirnow das Schicksal der Soldaten der Festung Brest im Zweiten Weltkrieg verfolgt und beschrieben. Sein Grabstein ist ein Mauerstück mit herausgesprengten Höhlen, die die steinernen Köpfe gefallener Soldaten bergen.

Hinter dem Grab Nikita Chruschtschows beginnt der jüngste Teil des Friedhofs. Die wenigen noch freien Parzellen werden heute von Staats- und

Parteichef Michail Gorbatschow vergeben. An einem der ersten Gräber in diesem Teil geht kein Russe der Generation der Fünfzig- bis Sechzigjährigen achtlos vorüber. Juri Lewitan liegt hier begraben. Er verlas im Zweiten Weltkrieg sämtliche Frontberichte. Seine im Timbre und in der Ausdrucksfähigkeit einzigartige Stimme machte den Chefsprecher von Radio Moskau bei Hitler besonders verhaßt.

Das staatliche Reisebüro „Intourist“ organisiert regelmäßig Exkursionen auf den „Nowodewitschje Kladbischtsche“. Wer hier keinen Erfolg hat, kann sich auf eigene Faust im Exkursionsbüro in der Uliza Schdanowa Nr. 5 im Parterre um eine Eintrittskarte bemühen — eine allerdings recht langwierige Prozedur, denn die Karten sind auch unter den Moskauern heiß begehrt.

Am leichtesten kommt hinein, wer einen Moskauer trifft, dessen Angehörige auf dem Neujungfrauen-Friedhof begraben sind. Die Mühe lohnt sich: es wartet ein einzigartiger Streifzug durch die russische und sowjetische Geschichte.

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