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Sabotage als Gegenmittel

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Über die eigenwilligen Formen des Widerstandes gegen die Misswirtschaft in der Sowjetunion. Zweiter Teil der Reihe "Notizen zur Sowjetgesellschaft".

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Über die eigenwilligen Formen des Widerstandes gegen die Misswirtschaft in der Sowjetunion. Zweiter Teil der Reihe "Notizen zur Sowjetgesellschaft".

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Die Bevölkerung der Sowjetunion hat ihre eigene Form entwickelt, auf das Sinken des Lebensstandards zu reagieren: die Sabotage. Dabei haben sich drei verschiedene Arten der Sabotage herausgebildet:

• Nichtstun

• Diebstahl

• Alkoholismus

Nichtstun ist hauptsächlich eine Angelegenheit der Angestellten, denn sie haben ja ein festes Gehalt. Es wird gewissermaßen als eine Selbstverständlichkeit angesehen, daß jemand, der ein festes Gehalt bezieht, dafür nichts leistet. Deshalb werden die Gehälter vom Staat wahrscheinlich auch so unglaublich niedrig angesetzt.

Es gibt Millionen von Sowjetbürgern, die im Monat nur zwischen 70 und 80 Rubel verdienen (zum Vergleich: ein Paar Damenstiefel österreichischer Erzeugnung kostete in diesem Frühjahr 95 Rubel). Und so betrachten es diese Menschen als ihr gutes Recht, überhaupt nichts oder nur das Notwendigste zu tun. Man sagt, daß es in Zentralrußland üblich sei, die ersten drei Tage nach der Gehaltszahlung überhaupt nicht zur Arbeit zu gehen.

Wo die Gelegenheit, etwas zu stehlen, da ist, wird die zweite Form der Sabotage praktiziert. Der Staat ist offensichtlich davon überzeugt, daß ein Verkäufer, dem er nur 70 Rubel zahlt, das zum Durchschnittsgehalt fehlende Geld durch Betrügen von Kunden von selbst wieder einbringt.

Daß die sowjetischen Fabriken von einem drei Meter hohen Zaun umgeben sind und diese Zäune immer höher und fester werden (heute werden sie schon aus Stahlbeton gebaut), hat seine Gründe: Sie sollen Diebstahl und das Verlassen des Arbeitsplatzes während der Arbeitszeit verhindern. Denn es ist üblich, daß Frauen bis zu zwei Stunden weggehen, um das Notwendigste für den Haushalt zu besorgen, und daß Männer sich außerhalb der Betriebe Wodka besorgen, um ihn vielfach gleich am Arbeitsplatz zu konsumieren.

Planungsbehörden und Forschungsinstitute sabotieren auf andere Weise: Man spielt Schach, liest Bücher, macht einige Male am Tag Rauchpausen, die oftmals Stunden dauern. Die wichtigste Form der Sabotage in diesen Bereichen bleibt dem Laien allerdings zumeist verborgen: Um das Dreifache an Honoraren herauszuschinden, werden Fristen künstlich in die Länge gezogen. Der Staat ist gezwungen, höhere Honorare zu zahlen, da sonst ein Projekt wegen Verzögerung aufgegeben werden müßte.

Forschungsinstitute wählen mit voller Absicht unergiebige oder aussichtslose Themen. Der Staat weiß das zwar genau, kann gegen die gerissenen Wissenschaftler aber nur selten etwas unternehmen. Daher wird versucht, der Sabotage durch verschärfte Disziplin, Zwangsarbeit in Kolchosen und Einfrieren der ohnehin lächerlich niedrigen Gehälter entgegenzuwirken.

Der Schluß liegt nahe, daß der Zynismus und die Apathie der Sowjetgesellschaft der sechziger Jahre die völlig bewußte Sabotage der siebziger Jahre nach sich gezogen hat.

Die wirksamste, wenn auch weniger bewußte Form der Sabotage bleibt freilich der Alkoholismus. Ich besitze keine genauen Angaben. Ich weiß nur, daß etwa ein Drittel des Warenumsatzes innerhalb der Sowjetunion auf Wein und Spirituosen entfällt. Ich weiß auch, daß 1970 in einem Dorf auf Sachalin für jeden Einwohner, also Frauen, Kinder und Greise mitgerechnet, ein Durchschnittskonsum von mehr als einem halben Liter Wodka pro Tag errechnet wurde.

Aber keine noch so exakte Statistik über die Milliarden für Alkohol ausgegebenen Rubel und die Millionen von Alkoholikern kann das Bild realistischer und grauenhafter veranschaulichen als die Hunderten, ja Tausenden Betrunkenen, die auf den Straßen der Städte herumhegen.

1970 sah ich im Zentrum von Moskau eine betrunkene Frau, die in einer Pfütze lag; gleich daneben ein Mann, der auf Händen und Füßen herumkroch - sein Gesicht zerschlagen, eine große Blutlache vor ihm auf dem Asphalt. Ununterbrochen gingen Leute an den beiden vorüber, geholfen hat ihnen jedoch keiner. Als ich Moskauer Freunden von diesem Vorfall erzählte, zuckten sie nur mit den Schultern.

In Kiew hatte ich ähnliches zu jener Zeit niemals gesehen. Als ich aber nach sechs Jahren Lageraufenthalt in die Stadt kam, bot sich dasselbe Bild, und meine Kiewer Freunde zuckten genauso mit den Schultern: „Wenn du jedem Besoffenen helfen willst, bist du ja den ganzen Tag an der Arbeit.“

So oft ich diese Szenen mit Betrunkenen auch sah, daran gewöhnen konnte ich mich nie. Alle wunderten sich über meine „Übersensibiltät“, mich aber erstaunte die Epidemie der Gefühllosigkeit, die sich in der Gesellschaft breitgemacht hatte.

Der Gerechtigkeit halber muß ich allerdings sagen, daß diesen Leuten zu helfen nicht nur eine recht unangenehme Sache ist (sie sind sehr schmutzig und aggressiv), daß es nicht nur unmöglich ist (es sind zuviele), sondern daß es auch gefährlich ist: Denn wenn ein Betrunkener ausgeraubt - und das kommt vielfach vor - oder gar tot sein sollte, droht dem Helfer eine gerichtliche Untersuchung. Schließlich: Was könnte man für die Alkoholiker wirklich tun? Die Krankenhäuser nehmen sie in der Regel nicht auf, die Miliz weigert sich zumeist, ihre Pflicht zu tun.

So hegen sie zu Hunderten auf den Straßen der russischen Städte, und man weiß nicht einmal, ob sie „nur“ betrunken oder schon tot sind...

Es ist eine fürchterliche Gesellschaft, aber noch fürchterlicher kann ihre Zukunft sein. Denn die Kinder der Alkoholiker kommen vielfach als Behinderte zur Welt. In den letzten zehn Jahren wurden in einem Moskauer Bezirk allein zwei Schulen für geistig behinderte. Kinder eröffnet.

Soweit die wichtigsten Formen der Sabotage, die die allgemeine Unzufriedenheit widerspiegeln. Nicht wahr, es klingt schon unglaubwürdig: „allgemeine Unzufriedenheit?“ Irgendjemand muß ja schließlich zufrieden sein? Aber die paradoxe Besonderheit der Sowjetgesellschaft ist die Tatsache, daß sogar materiell und rechtlich bevorzugte Gesellschaftsschichten mit der jetzigen Lage im Land nicht zufrieden sind.

Der Autor ist Physiker, Publizist, Lehrer und sowjetischer Dissident. 1941 in Sibirien geboren, wurde er 1971 vom Moskauer Stadtgericht wegen Hochverrats zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, die er in den Lagern Dubravlag und Perm absaß. 1979 wurde er zusammen mit zweihundert "unverbesserlichen" Dissidenten ins Ausland geschickt.

Erster Teil der Reihe: Sabotage als Gegenmittel.

Nächste (dritte) Folge der Reihe: Die sowjetische „Klassengesellschaft“

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