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Sag mir, wo die Kinder sind

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Die Österreicher schrumpfen - nicht an Körpergröße, aber an Zahl. Ließ sich dieses schon 1973 erstmals auftre- tende Phänomen zwei Jahre lang noch durch die in die Geburtenstatistik einbezogenen Gastarbeiterkinder kaschieren, so wurde es bei der Bilanz über das erste Jahr der Fristenlösung offenkundig: 1975 kamen in Österreich auf 96.041 Gestorbene nur 93.757 Lebendgeborene (davon 8,4 Prozent Nichtösterreicher!). Ein Jahr später betrug das Geburtendifizit bereits rund 8000, und nichts deutet darauf hin, daß sich heuer eine Trendumkehr anbahnt. Und das, obwohl immer stärkere Jahrgänge ins Heiratsalter kommen! Was sind die Ursachen, was die Folgen dieser Entwicklung?

Den Geburtenrückgang führt man meist auf das geänderte Rollenverständnis der Frau, die nicht länger „nur“ Hausfrau und Mutter sein wül und zunehmend außerhäuslich erwerbstätig ist, und auf ein Umdenken gegenüber dem Kind zurück - eines oder zwei könne man besser fordern und wird dadurch weniger belastet. Die Bedeutung empfängnisverhütender Mittel und der freien Abtreibung, die offiziell als Mittel der Geburtenkontrolle stets abgelehnt wird, es de facto aber ist, wird von den Demographen gering eingeschätzt. Zu Unrecht, wie der Gynäkologe Prof. Dr. Kurt Baumgartner, Primarius am Wiener Wilhelminenspital, bei einem Internationalen Symposium über „Geburtenrückgang in Österreich“ meinte. Der der SPÖ nahestehende Arzt bekannte sich zwar grundsätzlich zur Fristenlösung (obwohl er sie, wie zu erfahren war, gar nicht selbst praktiziert), forderte aber eindringlich Änderungen am bestehenden Gesetz.

Daß die Fristenlösung am Geburtenrückgang beteiligt sein dürfte, lassen einige Zahlen vermuten. 1974 sank die Geburtenzahl gegenüber dem Jahr davon nur noch um 600, 1975 aber plötzlich wieder um 4000 und 1976 sogar um 7000. Möglich, daß früher mehr „ungewollte“ Kinder zur Welt kamen, aber wie viele dieser Kinder blieben, nachdem sie einmal da waren, weiter „ungewollt“?

Wie auch immer, die Sozialisten scheinen auf dem besten Wege zu sein, bei der Bevölkerungspyramide jene Umkehrung zu erreichen, die sie an sich bei der Lohnpyramide anstreben. Univ.-Prof. Dr. Theodor Tomandl vom Institut für Arbeiisrecht an der Universität Wien, aer kürzlich über die Hauptergebnisse einer im Rahmen des Instituts für angewandte Sozial- und Wirtschaftsforschung durchgeführten Pilotstudie „Finanzierungs- und Wirksamkeitsprobleme der österreichischen Sozialversicherung“ referierte, sieht daher vom Jahr 2000 an große Probleme bei der Finanzierung der Sozialversicherung: „Sollen die Pensionserwartungen der heutigen Jungen gesichert werden, ohne die Erwerbsgeneration nach dem Jahr 2000 zu überfordern, muß Österreich so rasch wie möglich für ein Wiederansteigen der Geburtenzahlen sorgen.“ Demographisch gesehen, kommt es in den nächsten beiden Jahrzehnten zu einer Erholung der Pensionsversicherung, denn den vielen Personen im erwerbsfähigen Alter steht eine abnehmende Zahl von Pensionisten gegenüber. Die Probleme liegen aber nun darin, daß die vielen auf den Arbeitsmarkt drängenden Menschen mit

Arbeitsplätzen versehen werden müssen, während die Pensionisten zwar weniger werden, aber dafür auf immer mehr anrechenbare Dienstzeiten verweisen und damit Ansprüche auf höhere Pensionen geltend machen können.

Tomandl betont daß es gerade bei der Pensionsversicherung keine Alternative gibt, weil hier in langen Zeiträumen gedacht wird. Der heute Erwerbstätige, der mit seinen Beiträgen die derzeitigen Pensionen finanziert, kann mit Recht in einigen Jahrzehnten eine entsprechende Pension verlangen. Anderseits wird der in dreißig bis fünfzig Jahren Erwerbstätige sicher ungern die steigende Belastungsquote hinnehmen, und aus dieser Unzufriedenheit wieder könnten politische Gruppen Kapital zu schlagen versuchen.

Die Pensionsversicherung, auf die jetzt schon 71 Prozent der Gesamteinnahmen der Sozialversicherung entfallen - gegenüber 25 Prozent für die Krankenversicherung und 4 Prozent für die Unfallversicherung -, wird si cher das größte Problem sein. Aber auch bei der Krankenversicherung, selbst wenn ihr Anteil an der gesamten Sozialversicherung nicht zunehmen sollte, muß man sich Sorgen machen, denn erfahrungsgemäß gibt es in einer überalterten Bevölkerung auch mehr kranke und gebrechliche Personen.

In etwa einem Jahr will Tomandl die Hauptstudie zu dieser Thematik vorlegen, die neben einem analytischen Teil auch Alternativen aufzeigen soll, als sachliche Grundlage für politische Entscheidungen. Er sieht zwar sozialpolitische Weiterentwicklungen als notwendig an, bezweifelt aber ihre Finanzierbarkeit in der bisherigen Form und plädiert dafür, alle denkbaren Möglichkeiten von Sparmaßnahmen zu prüfen, etwa bei den Mehrfachleistungen (mehrere Pensionen oder Renten für eine Person) oder durch einen Selbstbehalt bei der Krankenversicherung. Uberlegenswert scheint ihm auch, die möglichen Folgen einer Änderung des Pensionsalters (nach oben oder unten) oder einer diesbezüglichen Angleichung von Mann und Frau zu berechnen. Überdies regt Tomandl eine flexible Regelung bei den Ruhensbestimmungen an, je nach konjunktureller Lage Anreize zur Weiterarbeit nach Erreichen des Pensionsalters zu geben oder das Gegenteil anzustreben.

Manche mögen die Meinung vertreten, ein „Gesundschrumpfen“ der österreichischen Bevölkerung sei angesichts der Übervölkerung der Erde ganz; gut, die beiden nächsten Generationen müßten eben eine gewisse „Durststrecke“ auf sich nehmen, dann werde sich die Bevölkerungszahl schon wieder stabilisieren. Gewiß, ein endloses Wachsen eines Volkes ist kaum zu verantworten, das Gegenteil belastet aber nicht nur die Sozialversicherung, sondern auch die Chancen auf eine berufliche Karriere, besonders bei allen mit Kindern und Jugendlichen befaßten Berufen.

Wie wäre das sozialpolitische Dilemma zu vermeiden? Univ.-Prof. Dr. Karl Heinz Wolff, Versicherungsmathematiker an der Technischen Uni* versität Wien, könnte sich ein stärkeres Heranziehen ausländischer Arbeitskräfte vorstellen, um genügend Erwerbstätige zu haben. Ein Sinken der Lebenserwartung als Folge von Streß und Umweltverschmutzung wäre eine zwar denkbare, aber äußerst unerfreuliche Lösung, ebenso ein Zurücknehmen von sozialen Errungenschaften. Ein Zurücknehmen der gegenwärtigen familienfeindlichen Politik, der Fristenlösung und der Propaganda für empfängnisverhütende Mittel (man denke an die ausgesprochen kindische TV-Serie vom November!) wäre dagegen angebracht, wobei für die gegenwärtige Regierung im Falle einer Gesinnungsänderung bevölkerungspolitische Motive wohl die einzig ausschlaggebenden wären.

Mehr Geburten, zumindest genau so viele wie Sterbefälle, wäre wohl die einfachste aller Lösungen. Aber dazu müßte sich auch die Einstellung zum Kind wieder ein wenig jener von Adalbert Stifter angleichen, der sagte: „Im Kind schlägt die Natur die Augen auf.“ In Österreich schlägt sie sie derzeit kaum noch auf. Da reicht es leider nur mehr zu einem müden Blinzeln.

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