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Salzburg - eine Todeskrankheit

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Die Stadt ist, von zwei Menschenkategorien bevölkert, von Geschäftemachern und ihren Opfern, dem Lernenden und Studierenden nur auf die schmerzhafte, eine jede Natur störende, mit der Zeit zerstörende und zerstörende, sehr oft nur auf die heimtückisch-tödliche Weise bewohnbar. Die extremen, den in ihr lebenden Menschen fortwährend irritierenden und enervierenden und in jedem Fall immer krankmachenden Wetterverhältnisse einerseits und die in diesen Wetterverhältnissen sich immer verheerender auf die Verfassung dieser Menschen auswirkende Salzburger Architektur anderseits, das allen diesen Erbarmungswürdigen bewußt oder unbewußt, aber im medizinischen Sinne immer schädliche, folgerichtig auf Kopf und Körper und auf das ganze diesen Naturverhältnissen ja vollkommen ausgelieferte Wesen drückende, mit unglaublicher Rücksichtslosigkeit immer wieder solche irritierende und enervierende und krankmachende und erniedrigende und beleidigende und mit großer Gemeinheit und Niederträchtigkeit begabte Einwohner produzierende Voralpenklima erzeugen immer wieder solche geborene oder hereingezogene Salzburger, die zwischen den, von dem Lernenden und Studierenden, der ich vor dreißig Jahren in dieser Stadt gewesen bin, aus Vorliebe geliebten, aber aus Erfahrung gehaßten kalten und nassen Mauern ihren bornierten Eigensinnigkeiten, Unsinnigkeiten, Stumpfsinnigkeiten, brutalen Geschäften und Melancholien nachgehen und eine unerschöpfliche Einnahmequelle für alle möglichen und unmöglichen Ärzte und Leiohenbestat-tungstmternehrfler sind. Der in dieser Stadt nach dem Wunsche seiner Erziehungsberechtigten, aber gegen seinen eigenen Willen Aufgewachsene und von frühester Kindheit an mit der größten Gefühls- und Verstandesbereitschaft für diese Stadt einerseits in den Schauprozeß ihrer Weltberühmtheit wie in eine perverse Geld- und Widergeld produzierende Sohönheits- als Verlogenheitsmaschine, anderseits in die Mittel- und Hilflosigkeit seiner von allen Seiten ungeschützten Kindheit und Jugend wie in eine Angst- und Schreckensfestung Eingeschlossene, zu dieser Stadt als zu seiner Charakter- und Geistesentwicklungsstadt Verurteilte, hat eine mehr traurige und mehr seine früheste und frühe Entwicklung verdüsternde und verfinsternde, in jedem Fall aber verhängnisvolle, für seine ganze Existenz zunehmend entscheidende, furchtbare Erinnerung an die Stadt und an die Existenzumstände in dieser Stadt, keine andere. Verleumdung, Lüge, Heuchelei entgegen, muß er sich während der Niederschrift dieser Andeutung sagen, daß diese Stadt, die sein ganzes Wesen durchsetzt und seinen Verstand bestimmt hat, ihm immer und vor allem in Kindheit und Jugend, in der zwei Jahrzehnte in ihr durchexerzierten und durchexerzierten Verzweiflungs- als Reifezeit, eine mehr den Geist und das Gemüt verletzende, ja immer nur Geist und Gemüt mißhandelnde gewesen ist, eine ihn ununterbrochen direkt oder indirekt für nicht begangene Vergehen und Verbrechen strafende und bestrafende und die Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, gleich welcher Natur, in ihm niederschlagende, nicht die seinen Schöpfungsgaben förderliche. Er hat in dieser Studierzeit, die zweifellos seine entsetzlichste Zeit gewesen ist, und von dieser seiner Studierzeit und den Empfindungen, die er in dieser Stu-dierzeit gehabt hat, ist hier die Rede, für den Rest seines Lebens einen hohen Preis und wahrscheinlich die Höchstsumme zahlen müssen. Diese Stadt hat die ihm von seinen Vorfahren überkommene Zuneigung und Liebe als Vorauszuneigung und Vorausliebe seinerseits nicht verdient und ihn immer und zu allen Zeiten und in allen Fällen bis zum heutigen Tage zurückgewiesen, abgestoßen, ihn jedenfalls vor den schutzlosen Kopf gestoßen. Hätte ich nicht diese letzten Endes den schöpferischen Menschen von jeher verletzende und verhetzende und am Ende immer vernichtende Stadt, die mir durch meine Eltern gleichzeitig Mutter- und Vaterstadt ist, von einem Augenblick auf den andern, und zwar in dem entscheidenden lebensrettenden Augenblick der äußersten Nervenanspannung und größtmöglichen Geistesverletzung hinter mich lassen können, ich hätte, wie so viele andere schöpferische Menschen in ihr und wie so viele, die mir verbundene und vertraute gewesen sind, diese für diese Stadt einzige bezeichnende Probe auf das Exempel gemacht und hätte mich urplötzlich umgebracht, wie sich viele in ihr urplötzlich umgebracht haben, oder ich wäre langsam und elendig in ihren Mauern und in ihrer das Ersticken und nichts als das Ersticken betreibenden unmenschlichen Luft zugrundegegangen ...

Ich habe sehr oft das besondere Wesen und die absolute Eigenart dieser meiner Mutter- und Vaterlandschaft aus (berühmter) Natur und (berühmter) Architektur erkennen und lieben dürfen, aber die in dieser Landschaft und Natur und Architektur existierenden und sich von Jahr zu Jahr kopflos multiplizierenden schwachsinnigen Bewohner und ihre gemeinen Gesetze und noch gemeineren Auslegungen dieser ihrer Gesetze haben das Erkennen und die Liebe für diese Natur (als Landschaft), die ein Wunder, und für diese Architektur, die ein Kunstwerk ist, immer gleich abgetötet, immer schon gleich in den ersten Ansätzen abgetötet, meine auf mich selber angewiesenen Existenzmittel waren immer gleich wehrlos gewesen gegen die in dieser Stadt wie in keiner zweiten herrschende Kleinbürgerlogik. Alles in dieser Stadt ist gegen das Schöpferische, und wird auch das Gegenteil immer mehr und mit immer größerer Vehemenz behauptet, die Heuchelei ist ihr Fundament, und ihre größte Leidenschaft ist die Geistlosigkeit, und wo sich in ihr Phantasie auch nur zeigt, wird sie ausgerottet. Salzburg ist eine perfide Fassade, auf welche die Welt ununterbrochen ihre Verlogenheit malt und hinter der das (oder der) Schöpferische verkümmern und verkommen und absterben muß. Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden...

*

Die Stadt war jetzt nur mehr noch grau und gespenstisch, und die Lastwagen und die holzgasbetriebenen Personenwagen mit ihren in den Wagenhintern hineingeschweißten Kesseln transportierten, so schien es, nur mehr noch Särge. In der letzten Zeit, bevor alle Schulen geschlossen worden waren, war ich nur noch selten mit dem Zug überhaupt bis Salzburg gekommen, meistens hatte der Zug schon vor Freilassing angehalten, und die Leute sind aus dem Zug hinausgesprungen und waren in den Wäldern links und rechts des Zuges in Deckung gegangen. Doppelrumpfige englische Jagdbomber nahmen den Zug in Beschuß, das Knattern der Bordkanonen habe ich heute noch genauso im Ohr wie damals, die Äste flogen, unter den auf den Waldboden Geduckten herrschten Angst und Stille, aber eine schon längst zur Gewohnheit gewordene Angst und Stille. So auf dem feuchten Waldboden hockend, mit eingezogenem Kopf, aber doch neugierig nach den feindlichen Flugzeugen Ausschau haltend, verzehrte ich den mir von meiner Großmutter oder von meiner Mutter in die Schultasche gesteckten Apfel und das Schwarzbrot. Waren die Flugzeuge weg, rannten die Leute wieder zum Zug und stiegen ein, und der Zug fuhr ein Stück, aber er fuhr nicht mehr nach Salzburg, die Geleise nach Salzburg waren längst zerrissen. Aber sehr oft konnte der Zug gar nicht mehr weiterfahren, weil die Lokomotive in Flammen aufgegangen und zerstört und der Lokomotivführer von den englischen Bordschützen getötet worden war. Aber meistens waren nicht die Züge auf der Fahrt nach Salzburg angegriffen worden, sondern die in Richtung München. Mit Vorliebe benützte ich für die Heimfahrt, solange sie verkehrten, die sogenannten Fronturlauberzüge, Schnellzüge mit diagonal blaudurchstrichenen weißen Schildern auf den Wagen, was nicht erlaubt, aber allen Schülern längst zur Gewohnheit geworden war. In diese Züge hatte man nur durch die Fenster ein- und aussteigen können, so überfüllt sind sie gewesen, und die meiste Zeit bin ich zwischen Salzburg und Traunstein zwischen den Wagen und also nur in den sogenannten Verbdndungsfalten der aneinandergekoppelten Waggons, zwischen Soldaten und Flüchtlingen eingequetscht, gefahren, und es hatte der äußersten Anstrengungen bedurft, in Salzburg hinein und in Traunstein wieder aus dem Zug zu kommen. Diese Züge sind beinahe jeden zweiten Tag aus der Luft überfallen worden.

Die Gesellschaft als Gemeinschaft gibt nicht Ruhe, bis nicht einer unter den vielen oder wenigen zum Opfer ausgewählt und von da an immer zu dem geworden ist, der von allen und zu jeder Gelegenheit von allen Zeigefingern durchbohrt wird. Die Gemeinschaft als Gesellschaft findet immer den Schwächsten und setzt ihn skrupellos ihrem Gelächter und ihren immer neuen und immer fürchterlichen Verspottungs- und Verhöhnungstortouren aus, und im Erfinden von immer neuen und immer verletzenderen Erfindungen solcher Verspottungs- und Verhöhnungstorturen ist sie die erfinderischeste. Wir brauchen ja nur in die Familien hineinzuschauen, in welchen wir immer ein Opfer der Verspottung und Verhöhnung finden, wo drei Menschen sind, wird schon einer immer verhöhnt und verspottet, und die größere Gemeinschaft als Gesellschaft kann ohne ein solches oder ohne mehrere solcher Opfer überhaupt nicht existieren. Die Gesellschaft als Gemeinschaft zieht immer nur aus den Gebrechen eines oder von ein paar einzelnen aus ihrer Matte ihre Unterhaltung, das ist lebenslänglich zu beobachten, und die Opfer werden solange ausgenützt, bis sie völlig zugrunde gerichtet sind. Und was den verkrüppelten Achitektensohn wie den Geografieprofessor Pittioni betrifft, habe ich sehen können, bis zu welchem Grade der Niederträchtigkeit die Verspottung und Verhöhnung und Zerstörung und Vernichtung solcher Gesellschafts- oder Gemeinschaftsopfer gehen kann, immer bis zu dem äußersten Grade und sehr oft über diesen äußersten Grad hinaus, indem ohne weiteres ein solches Opfer getötet wird. Und das Mitleid für dieses Opfer ist auch immer nur ein sogenanntes und ist in Wirklichkeit nichts anderes, als das schlechte Gewissen des einzelnen über die Handlungsweise und Grausamkeit der andern...

Eine Beschönigung ist unzulässig. An Beispielen für Grausamkeit und Niederträchtigkeit und Rücksichtslosigkeit zum Zwecke der Unterhaltung einer Gesellschaft als Gemeinschaft an solchen ihren ja immer durch und durch verzweifelten Opfern gibt es Hunderte, Tausende, wie wir wissen, und es wird von dieser Gesellschaft als Gemeinschaft oder umgekehrt, tatsächlich alles auf dem Gebiete der Graumsamkeit und Niederträchtigkeit an ihnen ausprobiert, und fast immer solange ausprobiert, bis diese Opfer getötet sind. Es ist wie immer in der Natur, daß ihre geschwächten Teile als geschwächte Substanzen zuerst angefallen und ausgebeutet und getötet und vernichtet werden. Und die Menschengesellschaft ist in dieser Hinsicht die niederträchtigste, weil raffinierteste. Und die Jahrhunderte haben daran nicht das geringste geändert, im Gegenteil, die Methoden sind verfeinert und dadurch noch fürchterlichere, infamere geworden, die Moral ist eine Lüge. Der sogenannte Gesunde weidet sich im Innersten immer an dem Kranken oder Verkrüppelten, und in Gemeinschaften und in Gesellschaften weiden sich immer alle sogenannten Gesunden an den sogenannten Kranken, Verkrüppelten.

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