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Santa Claus in Divis

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In den Wohnblöcken von Divis im Westen von Belfast, wo Bernie ihre Weihnachtsgeschichte erzählt, gibt es keine offenen Kamine. Kommt Santa Claus also nicht nach Divis?

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In den Wohnblöcken von Divis im Westen von Belfast, wo Bernie ihre Weihnachtsgeschichte erzählt, gibt es keine offenen Kamine. Kommt Santa Claus also nicht nach Divis?

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Mitten in der Nacht kommt Santa Claus auf seinem Schlitten mit den schönen schneeweißen Rentieren auf die Erde und hält auf jedem Hausdach. Er steigt vom Schlitten, holt die Geschenke aus dem Sack und saust durch den Kamin runter in die Stube, und während alle schlafen, steckt er die Geschenke in die Strümpfe.“

Noch bevor Bernie mit ihrer Erzählung zu Ende ist, stellen ihre kleinen Zuhörer — wie jedes Jahr — die gleiche Frage. In den Wohnblöcken von Divis im Westen von Belfast, wo Bernie ihre Weihnachtsgeschichte erzählt, gibt es keine offenen Kamine. Kommt Santa Claus also nicht nach Divis?

Die 28jährige Bernie Sipler, die seit vier Jahren — mit zähem Enthusiasmus — das. „Spielprojekt Divis“ leitet, erzählt später, wie sich die kleinen Kinder Gedanken machen, wie Santa Claus in die Wohnungen von Divis kommt.

Die Leute von Divis sind arm; ärmer noch als ihre Glaubensgenossen in den umliegenden katholischen Vierteln. Niemand wohnt freiwillig in Divis, mit seinen zugigen, dunklen, nach Urin stinkenden Treppenhäusern und den schmierigen, offenen Fluren.

Doch wer einmal hier wohnt, kommt nur schwer wieder weg. Kein Gebiet von Belfast wird so sorgfältig und skrupellos überwacht wie die Blöcke von Divis. Ein katholisches Viertel mit einer Arbeitslosenquote von mehr als 80 Prozent ist nach Ansicht der britischen Armee ein idealer Nährboden für Terror und Gewalt. Daher wird das Kommen und Gehen in Divis rund um die Uhr vom Hochhaus aus gefilmt.

Für die meisten Bewohner von Divis ist die staatliche Wohlfahrt die einzige Einkommensquelle. Phils Mann ist arbeitslos; nach Abzug von Miete und Lichtgeld bleiben ihr noch umgerechnet 350 Schilling pro Woche, von denen sie die Raten für den Kühlschrank, den Fernseher und natürlich Essen und Kleidung für ihre sechsköpfige Familie bezahlen muß.

Viele der Mütter hier versuchen vor Weihnachten Geld aufzunehmen — bei der Eank oder, wenn dort ihre Kreditwürdigkeit nicht ausreicht, bei einem der privaten Geldverleiher, die in Anzug und mit Aktenkoffer wöchentlich ihre Runde durch Divis machen.

Mit dem geborgten Geld feiert man Weihnachten mit Stil: Alkohol für die Erwachsenen, Spielzeug für die Kinder und neue Kleider für alle, die man dann am Weihnachtstag den neidischen Nachbarn vorführen kann.

Viele Hausfrauen sind in einem sogenannten Truthahn-Club; das heißt, sie zahlen dem Fleischer das ganze Jahr über Woche für

Woche einen kleinen Betrag für den Weihnachtstruthahn. „Und das Gute dabei ist“, so Mary, eine der Mütter, die im Kindergarten mithelfen, „du kriegst das Geld nicht zurück, auch wenn du's noch so dringend brauchst. Du kriegst nur deinen Truthahn, aber den hast du sicher.“

Mary sieht “Weihnachten als eine traurige Zeit, vor allem hier in Nordirland. „Man denkt ans letzte Jahr. Und 1986 war für viele kein gutes Jahr, wegen der Unruhen und der Armut, die immer schlimmer wird. Jedes Jahr wird's ein bißchen schlimmer. Fast alle hier haben jemanden im Gefängnis. Vergangenes Jahr waren es mein Mann, mein Bruder und mein Schwager.“ Marys Mann wurde am 21. Dezember 1982 aufgrund der Beschuldigungen eines Kronzeugen verhaftet. Am 24. Dezember wurde er unter Anklage gestellt. Das waren besonders traurige Weihnachten. Gegenwärtig läuft das Appellationsverfahren.

Das Weihnachtsgeschäft in Divis nimmt seinen gewohnten Gang. Die Kontrollen an den vergitterten Zugängen zur Fußgängerzone, wo einst vom Inhalt der Einkaufstaschen bis zur Echtheit der Bäuche schwangerer Frauen alles betastet und durchsucht wurde, sind aufgehoben worden.

Am Belfaster Rathaus, eingerahmt von zwei blinkenden Schlitten mit dem pausbäckigen Santa Claus, verkündet noch immer ein riesiges Plakat: Belfast sagt nein. Nein zu einem Abkommen, das der Republik Irland erlauben soll, sich für die Interessen der katholischen Minderheit im Norden einzusetzen.

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