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Schatten der Volksfront

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Wer sich mit der neuesteh französischen Geschichte beschäftigt, wird ständig mit vier Ereignissen konfrontiert, die das politische Bewußtsein der Nation formten: die Volksfront von 1936, die Resistance, der Algerienkrieg und der Mai 1968.

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Wer sich mit der neuesteh französischen Geschichte beschäftigt, wird ständig mit vier Ereignissen konfrontiert, die das politische Bewußtsein der Nation formten: die Volksfront von 1936, die Resistance, der Algerienkrieg und der Mai 1968.

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Für die Mittelklassen bedeutet das ephemere Volksfrontregime nach wie vor ein Schreckensgespenst. Die organisierte Arbeiterschaft wiederum sieht in der Bildung der ersten Regierung, zusammengesetzt aus Radikalsozialisten, Sozialisten und Kommunisten, den Beginn grundlegender sozialer Erneuerungen. In der Tat anerkannte das Kabinett Leon Blums zum ersten Mal die Berechtigung eines bezahlten Urlaubs für die Industriearbeiter und realisierte verschiedene, noch heute geltende soziale Maßnahmen.

Wenn auch die beiden Linksparteien durch einen Pakt aneinander-gebunden waren, versäumten die Kommunisten keine Gelegenheit, den Chef der sozialistischen Partei anzugreifen, zu verdächtigen und ihn gelegentlich sogar als „Sozial-Faschisten“ zu bezeichnen. Das Experiment der Volksfront verschwand infolge der nationalsozialistischen Kriegsdrohungen und des überall heraufdämmernden Faschismus.

Seit sich die sozialistische Partei 1920 in Tours spaltete, tauchte bei der Linken häufig die Sehnsucht auf, die Einheit des eigenen Lagers neuerlich herzustellen. Die ideologischen Unterschiede zwischen Sozialisten und Kommunisten vertieften sich aber vor und nach dem zweiten Weltkrieg. Leon Blum und sein Nachfolger Mollet hielten an den Traditionen einer pluralistischen Parteiendemokratie fest, während die KPF in den Sog des Stalinismus geriet. Sie wurde die moskauhörigste aller kommunistischen Parteien Westeuropas, huldigte bedingungslos dem später verdammten Persönlichkeitskult und folgte treu den Zickzackkursen der Außenpolitik, wie sie der georgische Diktator entwickelte. So wurden unter anderem, nach dem berüchtigten Stalin-Rib-bentrop-Abkommen, die französischen Kriegsanstrengungen von selten der kommunistischen Partei sabotiert. Die Kommunisten gingen weiter und glaubten, nach dem Sturz Frankreichs 1940 durch die deutsche Besatzungsmacht, einen halb legitimen Status zu erhalten. Kommunistische Historiker vergessen vielfach und gern die Demarche ihrer Unterhändler beim deutschen Militärkommandanten in Paris, die darauf hinzielte, die Genehmigung für das Erscheinen ihres Zentralorgans „L'Humanite“ zu erhalten.

Erst nach dem Einfall Hitlers in die Sowjetunion wurden die französischen Kommunisten aktive Mitglieder der Resistance. Ihr Heroismus und Opfermut im Widerstand gegen die Besatzung wird von allen Seiten restlos anerkannt. Es bestehen aber auch genügend Beweise dafür, daß die kommunistische Partei, 1944 und dann wieder 1947, zuerst durch einen militärischen Staatsstreich, dann durch insurrektioneile Streiks, Frankreich in eine Volksdemokratie verwandeln wollte. Durch blutige Säuberungen — mindestens 50.000 Personen wurden ohne Gerichtsurteil füsiliert — versuchten die Kommunisten damals, die politische Elite des Landes zu paralysieren. Dank der überragenden Persönlichkeit General de Gaulles und der Anwesenheit der ersten französischen und zahlreicher anglo- amerikanischer Armeen gingen diese Attentate gegen die Staatssicherheit ins Leere. Im zweiten Fall retteten Robert Schu-man und sein MRP die Republik buchstäblich in letzter Minute. Das nach dem Abgang General de Gaulles etablierte Parteienregime MRP-SFIO-KPF wurde im Jahr 1947 durch den sozialistischen Ministerpräsidenten Ramadier aufgelöst. Die sozialistische Partei, von einem militanten Antikommunismus erfaßt, lehnte Kontakte zu der zweiten Linkspartei entschieden ab. Die KPF wurde sonach ein eisiger, monolithischer Block. Von heftigen persönlichen und Richtungskämpfen erschüttert, kannte sie nur ein Ziel: die Direktiven des Kreml rechtzeitig und überzeugend zu interpretieren.

Nach dem Tod des allmächtigen Generalsekretärs Thorez lockerten sich die innerparteilichen Fronten. Gespräche mit verwandten Gruppen und einzelnen Persönlichkeiten des katholischen Lagers wurden wieder eingeleitet. Unter der Führung des Urbanen Generalsekretärs Waldeck-Rochet gab sich die KPF das moderne Image einer vernünftig orientierten Sozialpartei. Die revolutionären Slogans verschwanden wie durch Zauberhand aus dem Wortschatz. Sie wurden durch Worte wie „demokratische Zusammenarbeit“ und „Kollaboration aller Volksbewegungen, einschließlich der katholischen'“ ersetzt. Selbst der seit Jahrzehnten sorgfältig gehütete Antiklerikalismus verweste in einem Schrank. Allerdings konnte die Parteileitung dem italienischen Beispiel nicht folgen. Sie sah weiterhin in Moskau die Zentrale des Weltkommunismus, verurteilte die mao-istischen „Abenteuer“ utnd bekämpfte hartnäckig die „Abweichungen“ des äußersten linken Flügels. Das Vorgehen der Warschauer-Pakt-Mächte in der Tschechoslowakei fand lediglich eine vorübergehende, doch milde Kritik. Einzelne selbstbewußte Geister wie Garaudy verdammten den „Panzer-Kommunismus“ und wurden ausgestoßen.

Mit größter Behutsamkeit manövrierten die Kommunisten in den Maitagen 1963. Ihrer Vorsicht ist es mitzuverdanken, daß Blutvergießen vermieden werden konnte.

Die Sozialisten, in der V. Republik zusehends geschrumpft, sanken zu einer Partei der kleinen Staats- und Gemeindebeamten, besonders der Eisenbahner herab. Sie waren sich des Verlustes an proletarischer Substanz schmerzlich bewußt. Der Nachfolger Mollets im Amte des Ersten Sekretärs Savary, tastete sich in Richtung der Kommunisten vor. Die „demokratische und sozialistische Föderation“ Mitterrands, eine lose Gruppierung aus SFIO, Radikalsozialisten und der Konvention der politischen Klubs, schloß 1968 mit der KPF ein konturloses Bündnis ab. Obwohl die Kommunisten gegenüber Mitterrand starke Reserven demonstrierten, gaben sie ihm doch 1969 ihre Stimme als dem Gegenkandidaten de Gaulles. Trotzdem verschlechterten sich die persönlichen Beziehungen zwischen Mitterrand und dem Nachfolger Waldeck-Rochets, dem wendigen und gefährlichen Polittechnokraten Marchais. Selbst intime Kenner der Innenpolitik glaubten nicht an eine konstruktive Zusammenarbeit der Sozialisten mit den Kommunisten. Die Parteien bekämpften einander noch im Frühjahr dieses Jahres, polemisierten in aller Öffentlichkeit und manifestierten ihre Unfähigkeit, eine gemeinsame politische Plattform zu finden.

Um so überraschender muß der Abschluß eines Kontrakts zur Bildung einer Volksfrontregierung zwischen Kommunisten und Sozialisten am 27. Juni 1972 gewertet werden. Noch nie seit dem Kriegsende hat eine demokratische sozialistische Partei Westeuropas eine so weitreichende Bindung an die Kommunisten gewagt. Die Bipolarisation der V. Republik wird sich ins Ungemessene potenzieren. Die Reformbewegungen Lecanuets und Servan-Schreibers, die auf die fortdauernden Unstimmigkeiten zwischen Sozialisten und Kommunisten spekulierten, werden zur Mitte rechts und in die Nähe der bestehenden Majorität gedrängt.

Die Unterzeichnung des Vertrags zwischen Sozialisten und Kommunisten hat auch außenpolitische Rückwirkungen. Zum erstenmal akzeptierten die Kommunisten die Realität der EWG. Eine Volksfrontregierung würde demnach den Gemeinsamen Markt nicht torpedieren oder verlassen. Damit wird der Wille Moskaus transparent, in Westeuropa und in der EWG mitzuspielen und hier gewichtige Positionen einzunehmen.

Vermag die Linkskoalition eine Mehrheit zu finden? Wieweit gelang es den Kommunisten, die atavistische Angst vor ihrer Partei in den Mittelklassen zu beseitigen? Nach Meinung gut informierter Politologen müßten zusätzlich d', Wähler der Mehrheit im Ausmaß von 5 bis 8 Prozent dem Programm einer Volksfront Glauben schenken, um die sozialistisch-kommunistische Union zu bestätigen.

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