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Schein und Sein nach 30 Jahren

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Am 1. Oktober 1949 hat Mao Dsedong vom Pekinger Tor des himmlischen Friedens aus die Volksrepublik China proklamiert. 30 Jahre nach diesem Ereignis und drei Jahre nach Maos Tod fragt sich die Welt: Ist das größte Revolutionsprojekt der Geschichte, die politische Umformung eines jetzt schon von nahezu einer Milliarde Menschen bevölkerten Reiches, auf dem Weg zum Scheitern oder zum Erfolg?

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Am 1. Oktober 1949 hat Mao Dsedong vom Pekinger Tor des himmlischen Friedens aus die Volksrepublik China proklamiert. 30 Jahre nach diesem Ereignis und drei Jahre nach Maos Tod fragt sich die Welt: Ist das größte Revolutionsprojekt der Geschichte, die politische Umformung eines jetzt schon von nahezu einer Milliarde Menschen bevölkerten Reiches, auf dem Weg zum Scheitern oder zum Erfolg?

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Wer China bereist, kehrt so gut wie sicher als Enthusiast zurück: Die Menschen sind freundlich, ihr Arbeitsfleiß auch im Angesicht hoffnungslos erscheinender Widerstände besticht, niemand scheint zu hungern, man ist um Sauberkeit bemüht, Trinkgelder sind verpönt, Diebstahl anscheinend ausgestorben.

Das Land selbst ist reich von Kulturgütern, die wieder gepflegt, und von natürlichen Reizen, die vielfach wieder zugänglich gemacht sind. Man bringt keine Hunde und Vögel mehr massenweise um, Mädchen tragen wieder bunte Blusen und kurze Röcke, am Ufer des Li-Flusses in der Märchenstadt Guilin haben wir ein küssendes Liebespaar im Mon- denschein gesehen.

Solcher Anschein wird der Wirklichkeit bei weitem nicht gerecht, und es spricht für die Herrscher des Landes, daß diese selbst einige dieser Impressionen richtigstellen.

Sicher: Massenweise Hungersnot ist nirgendwo zu beklagen. Aber auch das heutige Regime gibt „Getreidemangel und Versorgungsprobleme in gewissen Gebieten” (so Vize-Bau- tenminister Xiä Bei-i zu österreichischen Journalisten) zu. In ausländischen Presseberichten ist von 20 und mehr Millionen unterversorgter Chinesen die Rede.

Arbeitslosigkeit ist in einem Land am Beginn der Technisierung kein Zentralproblem. Aber wieder räumt selbst die Regierung ein, daß sieben Millionen Schulabgänger in den Städten nach einem Posten suchen. Ein Vielfaches dieser Zahl - Taiwan will auf Grund offizieller rotchinesischer Angaben in den letzten zehn Jahren insgesamt 60 Millionen zusammengezählt haben - machen die Jugendlichen aus, die während der Großen Proletarischen Kulturrevolution nach dem Schulabgang aufs Land gingen und jetzt verzweifelt zurück möchten, aber mit Gewalt von den Städten femgehalten werden.

Ob die Hunderttausenden Jugendlichen in den Straßen von Schanghai, die uns an einem Wochentag auffielen, wirklich nur „Besucher vom Land” oder Schichtarbeiter waren, für die eben Dienstag oder Freitag statt Sonntag der eine freie Tag der Arbeitswoche war, blieb unbeweisbar: Oder stimmen Berichte in Peking seßhafter Ausländskorrespondenten, wonach die Arbeitsmoral in den Fabriken stark nachlasse, oft nur die Hälfte der Belegschaft arbeite und die andere blaumache?

Das geistige Klima im Land hat sich unter dem Regime von KP- und Regierungschef Hua Guofeng (59) und Vizepremier Deng Xiaoping (75) grundlegend geändert. Aber auch wenn „nicht mehr jeder Leitartikel im voraus dem ZK vorgelesen wird” (Auskunft bei „Renmin Ribao”, der Pekinger „Volkszeitung”) und immer noch die Massen sich vor den (zahmer gewordenen) Spontananschlägen auf der „Demokratiemauer” in Peking stauen: Von Presseoder Meinungsfreiheit im westlichen Sinn sind die Chinesen noch immer meilenweit entfernt. (Manche westliche Länder freilich auch.)

Seit vielen Jahren gibt es eine Rationierung der wichtigsten Lebensmittel (Rinder-, Schweine- und Lammfleisch, Mehl, Reis, Speiseöl), von Zigaretten und von Gebrauchsartikeln wie Fahrrädern oder Nähmaschinen. Schwer vorstellbar, daß bei einem solchen System nicht auch der Schleichhandel blühen sollte, auch wenn man immer wieder hört und liest, die Korruption sei weitgehend eingedämmt.

Zu den unmenschlichsten Zügen des Staatssystems gehört noch immer die anbefohlene Familientrennung: Der Mann arbeitet in Peking, die Frau 600 oder 1000 km davon entfernt Nur für einen einzigen Besuch pro Jahr gibt es ein paar Urlaubstage.

Dagegen ist der seinerzeitige Vorwurf, das Regime betreibe gewaltsam eine Entfremdung der Kinder von ihren Eltern, dem Anschein nach nicht aufrechtzuerhalten. Wo immer man fragt, erhält man zur Antwort, daß die

Kinder berufstätiger Eltern entweder von Großmüttern gepflegt oder doch nur tagsüber in Horten versorgt würden. Dieser Zerschlagungsversuch ist offenbar gescheitert.

Zu den ärgerlichsten Erscheinungsformen des Lebens in der Volksrepublik China gehört das ständige Umschreiben der Geschichte. Der Erste Kaiser, einst als Einiger des Reiches großer Urahn des großen Mao Selbst, muß heute wieder als brutales Scheusal verachtet werden. Konfuzius, noch vor fünf Jahren Erzfeind der revolutionären Generation, darf nunmehr wieder (kritisch) geachtet werden. Lin Biao, anfangs treuer Weggefährte Maos, ist jetzt ein Unhold - desgleichen die Mao-Witwe Jiang Ching, die gestern noch als Er- neu’erin der gesamten chinesischen Kultur gefeiert wurde.

Wie man weiß, ist im Moment die Viererbande an Produktionsrückgängen in Fabriken und Kraftwerken, Qualitätsverlusten an Mittelund Hochschulen, aber auch an Mißernten und Kunstverirrungen schuld. Gibt es irgendeinen Fehler, der irgendwo in China irgendwann in den letzten zehn Jahren begangen wurde, der nicht auf das Konto der Viererbande geht? Die Frage war ironisch gemeint, erhielt aber eine todernste Antwort: „Nein.”

Solches verstört. Offenbar nicht nur ausländische Besucher. Die revolutionären Massen von gestern hat der ständige spektakuläre Kultwandel an den „Rand der Erschöpfung” und „fast bis zur Standpunktlosig- keit getrieben”, urteilt der Däne Jan Bredsdorff, der nach jahrelanger Lehrtätigkeit in China nun das Buch „Die große Wut des Genossen Li auf die Viererbande” (Rowohlt) geschrieben hat.

Positiv an der umfassenden Neuorientierung aller Lebensbereiche ist zweifellos die Bereitschaft, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Welche Regierung der Welt tut dies schon? Das ändert freilich nichts an der Tatsache, daß die Neuorientierung nicht das Ergebnis einer schöpferischen Weiterentwicklung der marxistischen Ideologie, sondern unausweichliche Notwendigkeit eines ins Chaos treibenden Systems war.

Die Kulturrevolution als dramatischer Versuch, der Bürokratisierung und Kommodisierung einer wachsenden Bonzenschicht entgegenzuwirken, hat auch im Ausland eine gewisse Bewunderung gefunden. Sie ist ebenso dramatisch gescheitert: Auch noch so viel revolutionäres Phrasendreschen befähigt einen Mechaniker nicht dazu, eine Fabrik, und einen Pedell, die Universität zu führen.

Wenn etwas China-Besucher heute überrascht, dann das Ausmaß des Verfalls, das die Kulturrevolution überall offenbar schon bewirkt hatte. Der Umkehrversuch erfolgt in letzter Stunde. Selbstverständlich stellt er eine klare Abkehr von Mao dar, die offizielle Vertreter des heutigen Regimes nur mühsam als Korrektur bloß des „alten, von seiner Umgebung hinters Licht geführen Vorsitzenden” noch zu verniedlichen suchen. Man würde sich nicht wundern, wenn in ein paar Jahren die offene Abrechnung mit Maos Irrtümern begänne. Oder die „Rückkehr zum wahren Mao”, falls plötzlich wieder der linksextreme Flügel im ZK die Oberhand gewinnen sollte.

Dies ist freilich wenig wahrscheinlich, solange blanke Notwendigkeit den neuen pragmatischen Kurs diktiert: wieder mehr Prämien für höhere Leistung, wieder Aufnahme- und Beförderungsprüfungen, wieder Schulnoten und Auslandskapital, wieder privater Landbau und Erotik auf Bühne und Promenadenbank, wieder Unterhaltung um der Unterhaltung und private Schweinezucht um der agrarischen Produktionssteigerung willen.

Und Prämien für Einkinderfamilien, die bei Ankunft eines zweiten Sprößlings zurückgezahlt werden müssen, ehe beim dritten Kind gar die Kürzung der Lebensmittelration . droht: Die 12 Millionen Chinesen, die jährlich netto Zuwachsen, sind dem Regime, das per Jahresende 1978 offiziell über 975,230.000 Menschen herrschte, noch immer zuviel. (17 Millionen aus politischen Gründen mitgezählte Taiwanesen sind da abzurechnen.)

Daß man erstmals für 1978 absolute Zahlen und nicht nur Prozentangaben für gesellschaftliche Bewertungen veröffentlichte („Die Exporte betrugen 9500 Millionen Yüan, eine Steigerung um 26,8 Prozent; die Importe 11.800 Millionen Yüan, eine Erhöhung um 59,9 Prozent”) gehört nun auch zum neuen Stü.

Gleiches gilt von der Absicht, das Rechtswesen auf eine tragfähige, vielfach gänzlich neue Basis zu stellen. Erstmals wird es demnächst einen Justizminister geben, die Institution eines Strafverteidigers wird eingeführt. Vorträge, die die österreichischen Höchstrichter E. Melichar und Franz Pallin nach einem China-Besuch vor einigen Monaten hielten, gaben diesbezüglich interessante Aufschlüsse.

Keine Frage: Das Experiment geht weiter. Im Augenblick ist die eingeschlagene Richtung fraglos sympathischer als jene, die noch vor wenigen Jahren galt. Von einem nahen Zusammenbruch des Regimes ist nichts zu spüren. Von einem Triumph, wie manche Schwärmer glauben, freilich auch nicht. Wie China in zehn Jahren aussehen wird, kann kein seriöser Kommentator heute glaubhaft prophezeien.

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