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Schieber, Bauern, Tagelöhner...

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Über die sowjetische Klassengesellschaft. Aus der Reihe "Notizen zur Sowjetgesellschaft" - dritter Teil.

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Über die sowjetische Klassengesellschaft. Aus der Reihe "Notizen zur Sowjetgesellschaft" - dritter Teil.

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Innerhalb der arbeitstätigen Bevölkerung der UdSSR (von 16 Jahren bis zum Pensionsalter) unterscheide ich folgende acht gesellschaftlichen Schichten:

1. Staats- und Parteispitze

2. Schieber

3. Intellektuelle

4. städtische Tagelöhner

5. Landarbeiter

6. Studierende

7. Militär

8. Gefangene

Sie unterscheiden sich voneinander durch ihre materielle Situation, durch ihre Art zu leben und durch ihre Einstellung zur Gesellschaft. Was nun die Weltanschauung betrifft, ist für diese Gesellschaft ein sehr schmales Spektrum charakteristisch. Grundsätzlich kann man die Sowjetgesellschaft in dieser Hinsicht in zwei Gruppen teilen: die Nichtdenkenden und die Andersdenkenden.

Die Nichtdenkenden sind jene, die sich geistig in der vom Staat vorgeschriebenen Richtung bewegen, Andersdenkende jene, die irgendwie selbständig zu denken versuchen. Dabei zählt zu den Andersdenkenden zweifellos auch ein beträchtlicher Teil der Staats- und Parteispitze - jener Teil nämlich, der an Informationen herankommt und diese auch für Propagandazwecke verwerten kann. Ein Dissident ist wiederum, wer nicht nur denkt, sondern auch spricht.

Nun zu den gesellschaftlichen Schichten im einzelnen. Zur ersten Schicht zähle ich alle, die mit Privilegien ausgestattet sind, mit denen sich ihre Besitzer eine völlig andere, abgeschlossene Lebenssphäre schaffen können. Zu diesen Privilegien gehören etwa Privatautos, Datschas und Zutritt zu Geschäften, die für normale Durchschnittsbürger unzugänglich sind. Zahlenmäßig ist diese Schicht recht schwach, etwa 200.000 Menschen. Ihr intellektuelles Niveau steht auf einer niedrigen Stufe, ihre Psyche ist denkbar einfach: Sie wollen ihre Privilegien behalten, fühlen aber auch die Abneigung, die ihnen von ihrer Umwelt entgegengebracht wird.

Eine Folge der seit den ersten Tagen der Sowjetunion existierenden „vorübergehenden Versorgungsschwierigkeiten“ ist der ständige Mangel an bestimmten Waren. Diesem Umstand verdankt eine ganze Schicht ihre Existenzgrundlage: die Schieber, die in den Bereichen Handel und Dienstleistungen das große Geld machen. Ihnen kommen die Versorgungsengpässe zugute, ja sie tun alles, um diese künstlich zu schaffen.

Diese zweite Schicht, der an die fünf Millionen Menschen angehören, genießt eine gewisse Unterstützung seitens der Behörden. Das Regime schafft somit künstlich eine Gruppe von Menschen, die ihm hilft, die Masse in einem Zustand des Hungers und ständiger Sorge zu halten. Kein Wunder, wenn sich der Haß und die Verachtung der Bevölkerung gegen diese Schieber richtet, denn man sieht in ihnen die Ursache der materiellen Ungleichheit und der ständigen Versorgungsschwierigkeiten.

In den letzten Jahren zeigten sich aber selbst die Schieber mit der Lage im Land unzufrieden. Auf der Suche nach letzten Reserven versuchte der Staat in den letzten sieben bis acht Jahren durch regelmäßige Preiserhöhungen auch aus den Schiebern das Geld herauszupressen. Diese Praxis hat auch bei dieser Schicht die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft schwinden lassen.

Gegen die Intellektuellen, die dritte Schicht, hegte das Sowjetregime schon immer großes Mißtrauen. Eine Zeitlang wurden sie systematisch verfolgt und vernichtet, bis man entdeckte, daß einige von ihnen auch durchaus nützlich sein können: die nämlich, die Raketen konstruieren und Propaganda machen können. Allen anderen, wie Lehrern, Ärzten oder Wissenschaftern begegnet das Regime nach wie vor mit Mißtrauen und Abneigung.

Da ihre Arbeit kaum überprüfbar ist, wird angenommen, daß sie nur das Notwendigste oder nicht einmal das tun. Dementsprechend werden sie auch bezahlt: etwa die Hälfte von ihnen bekommt minimale Gehälter um die 120 Rubel.

Mit dieser Politik werden zwei Fliegen auf einen Streich getroffen: Der Uberschuß geistiger Energie muß von den Intellektuellen darauf verwendet werden, ein zusätzliches Stück Brot zu erwerben, die ganze Schicht wird vor den Augen der übrigen Bevölkerung diskreditiert.

Die Intellektuellen hören westliche Sender, verstehen vieles, sind aber schon so erniedrigt und autoritätslos, daß sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht in bestimmte Bahnen lenken können. Es bleibt ihnen nur, Witze zu erzählen, zu jammern und die Entwicklung der Ereignisse abzuwarten.

In der Sowjetunion gibt es keine Arbeiterklasse, sondern nur billige Arbeitskraft: Taglöhner, die keine Rechte außer dem einen haben, ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Sie haben keine Tradition, keine eigenen Organisationen, leben schlecht, haben beinahe kein Eigentum, sind unzufrieden, schimpfen und saufen...

Die städtischen Tagelöhner, die vierte Schicht kommen zu 70 Prozent vom Land. Jahrelang leben sie in den fabrikeigenen Arbeiterheimen, wo sich oft zwei oder drei junge Familien ein Zimmer teilen müssen. Ihr Durchschnittsverdienst liegt bei 150 Rubel

Die Arbeit zu wechseln, heißt, die Aussicht auf eine Wohnung zu verlieren. Was dazu führt, daß Arbeiter, die drei oder vier Jahre in einem Werk gearbeitet haben, praktisch zu „Leibeigenen“ werden.

Alljährlich wird die Norm mit „Zustimmung“ der Gewerkschaften um fünf bis sechs Prozent erhöht, die Arbeitsbedingungen werden allerdings nicht verbessert. Die Verminderung der Qualität ist die Folge. Daraufhin wird die sowieso schon überbesetzte OTK (Abteilung für technische Kontrolle) zusätzlich vergrößert, was aber auch nichts nützt, da die OTK von der Betriebsleitung gezwungen wird, die mangelhafte Produktion anstandslos durchzulassen, damit der Plan erfüllt werden kann.

Im Endeffekt wird zwar der Plan erfüllt, aber keines der hergestellten Produkte entspricht den technologischen Anforderungen. So bricht die Produktion noch schneller zusammen, alles beginnt von neuem. Aus diesen Gründen kaufen die Konsumenten keine inländischen Erzeugnisse und deshalb importiert der Staat auch westliche Konsumgüter.

Die Masse der städtischen Arbeiter zerfällt ihrerseits in drei unterschiedliche Kategorien: ältere Familienmitglieder sowie Jugendliche, die ihren Kontakt zum Land schon verloren und noch keinen Anschluß an das Stadtleben gefunden haben; schließlich das Lumpenproletariat, das sich vornehmlich aus Arbeitern zusammensetzt, die die Hoffnung aufgegeben haben, ihre Familie durch ehrliche Arbeit ernähren zu können und daher zum Alkohol greifen. Gerade die Jugendlichen und das Lumpenproletariat könnten im Mittelpunkt künftiger Unruhen stehen.

Landarbeiter, die fünfte Schicht, sind meist ältere Semester, die in einer patriarchalischen Atmosphäre, ohne allen Komfort und außerhalb der Kultursphäre ihr Leben fristen. Sie sind so sehr mit ihren Alltagsproblemen beschäftigt, daß man von ihnen kaum irgendwelche Aktivitäten erwarten kann.

Noch etwas sei hier angemerkt: Keine Versuche der Regierung, die Landwirtschaft zu reprivatisieren, werden das Ernährungsproblem der Sowjetunion lösen helfen. Für die Bauern besteht dazu auch kein Anreiz: Sie haben jetzt schon ziemlich Viel Geld, können sich dafür aber nichts kaufen, vor allem keine Baustoffe und Haushaltsgeräte, die ihren Lebensstil dem in der Stadt näherbringen könnten.

Die sechste Schicht der Studierenden, Schüler und Studenten also, stellen in der Sowjetunion in keiner Weise eine solche politische Kraft dar, wie das von Zeit zu Zeit im Westen der Fall war. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß einige von ihnen an künftigen Unruhen beteiligt sein werden.

Die Soldaten und die Gefangenen sind zweifellos die beiden am stärksten benachteiligten Schichten der Sowjetbevölkerung. Sie sind nicht nur rechtlos, sondern auch verbittert und hungrig. Beide Schichten sind relativ stark (sieben und fünf Millionen) und bestehen zum Großteil aus jungen Menschen, die nichts zu gewinnen und nichts zu verlieren haben. So könnten sie im Falle einer Befreiung zu einem mächtigen anarchischen Element werden.

Während die Rolle der Gefangenen in künftigen Wirren vorauszusehen ist - sie werden sich an der Miliz, den Gerichten und Bürgern rächen - ist die Rolle der Armee sehr unklar. Einerseits waren die Sowjetsoldaten schon immer dumm und gehorsam genug, auf das eigene Volk zu schießen. Andererseits ist bekannt, daß etwa die Truppen, die an der Besetzung der Tschechoslowakei teilgenommen hatten, rasch abgelöst werden mußten, um einer völligen Zersetzung zuvorzukommen.

Die Sowjetarmee ist multinational, es stehen also keine kaukasischen Divisionen bereit, die etwa einen Aufstand in Leningrad niederwerfen könnten, genausowenig wie ukrainische Truppen zur Befriedung Kasachstans. Die Truppen des Innenministeriums (MWD) im europäischen Teil der Sowjetunion setzen sich vorwiegend aus Vertretern kleinerer Nationen zusammen.

Das Einzige, was man mit Sicherheit von der Sowjetarmee behaupten kann, ist, daß die Disziplin in ihren Reihen noch nie so schlecht war wie heute.

Wenn es etwas gibt, was alle sozialen Schichten der Sowjetbevölkerung verbindet, ist es die allgemeine Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage im Land. Im übrigen gibt es zwischen jeder einzelnen Schicht und allen restlichen zumindest Abneigung, wenn nicht offene Feindschaft.

Beginnen wir mit der Grundeinteilung der Bevölkerung in die Stadt-und Landbevölkerung. Natürlich gibt es auch hier Zwischenschichten, die Bewohner kleiner Städte etwa. Aber wenn wir die typischen Vertreter beider Gruppen betrachten, gibt es zwischen ihnen Unterschiede wie zwischen den Adeligen und den Leibeigenen des 19. Jahrhunderts.

Das Recht, in Moskau leben zu dürfen gibt einem Bewohner der Hauptstadt so viele Privilegien, daß er die Landbevölkerung für Untermenschen zu halten beginnt. Außerdem wurde die Landbevölkerung in den letzten 60 Jahren so oft ausgeplündert, erniedrigt und verfolgt, sind die Lebensbedingungen auf dem Land so miserabel, daß sich bei ihr ein gewisser Minderwertigkeitskomplex herausgebildet hat Die Landbewohner beneiden und haßen die Städter, die nichts arbeiten, aber dennoch besser leben.

Die Intellektuellen, werden von den Arbeitern als Parasiten angesehen. Die Intellektuellen verachten ihrerseits die Arbeiter wegen ihrer Trunksucht und beneiden sie um ihre vermeintlichen .Privilegien“.

Die Kommunisten werden von allen verachtet. In den Augen des Volkes sind sie Karrieristen, die ihre Privilegien auf unsauberen Wegen erwerben. Den Staat zu bestehlen, wird von vielen als die gerechtere Sünde angesehen.

Die einzige Schicht, die bei allen Bevölkerungsgruppen einige Sympathien genießt, ist die Armee. Man bemitleidet die in die Uniformen gezwängten jungen Leute und hat Respekt vor den Offizieren.

Der Autor ist Physiker, Publizist, Lehrer und sowjetischer Dissident. 1941 in Sibirien geboren, wurde er 1971 vom Moskauer Stadtgericht wegen Hochverrats zu acht Jahren Gefängnis verurteilt, die er in den Lagern Dubravlag und Perm absaß. 1979 wurde er zusammen mit zweihundert "unverbesserlichen" Dissidenten ins Ausland geschickt.

Erster Teil der Reihe: Die Sojetunion - krank und unrentabel

Zweiter Teil: Sabotage als Gegenmittel

Vierter und letzter Teil der Reihe: Gibt es eine Alternative zum Sowjetregime?

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