6851424-1976_48_13.jpg
Digital In Arbeit

Schiefes Bild

Werbung
Werbung
Werbung

Unter dem Titel „Die zeitgenössische Literatur Österreichs“ erschien, herausgegeben von Hilde Spiel, der vierte Band gegenwärtiger Literaturgeschichten des deutschen Sprachraums. Nun gehört eine Literaturgeschichte der Gegenwart im allgemeinen zu den undankbarsten und schwierigsten- Unternehmungen literaturkritischer Bemühungen überhaupt, da mangels Distanz und kritischer Vorarbeiten eine oft so chaotisch verwirrende Vielfalt an Stoff bewältigt werden muß, daß selten auch nur ein größerer Bruchteil bleibender Ergebnisse verzeichnet werden kann. Die vorliegende „Literaturgeschichte“ ist allerdings selbst bei Berücksichtigung dieser Schwierigkeiten katastrophal mangelhaft ausgefallen, und dies gilt besonders von der einleitenden Gesamtübersicht der Herausgeberin.

Wer sich einen Uberblick über literarische Entwicklungen erhofft, wird bitter enttäuscht von dieser Überschau. Etwa ein dutzend Male sind sowohl der Begriff „Surrealismus“ wie auch der Begriff „Phantastischer Realismus“ gebraucht, meist in äußerst vager Weise, einmal ist auch von „Sozialrealismus“ die Rede, aber im allgemeinen werden nur die noch vageren Begriffe von „Establishment“ und „konservativen“ Anschauungen einerseits und von „Avantgarde“, „Pro-gressisten“ und „Experimentallitera-tur“ anderseits verwendet Daß d^ese Benennungen vielfach zu inhaltsleeren Schlagworten reduziert werden, ergibt sich nicht nur aus der Tatsache, daß selbst innerhalb des kurzen behandelten Zeitraums die „Progressi-sten“ der fünfziger Jahre sich zu den „Etablierten“ der sechziger und siebziger Jahre wandeln, so daß man zuletzt nicht recht weiß, wo sie hingehören. Zudem erweist sich vieles, was als „progressiv“, und dies allein bedeutet hilr bereits „positiv“ gepriesen wird, bei näherer Betrachtung als dichtungsästhetisch altmodischer als vieles in der „etablierten“ Literatur.

Was dominiert, ist eine Perspektive, die Sich vor allem im Breittreten von Details über Cliquen- und Koteriebil-dungen sowie in der Mitteilung von Einzelheiten darüber gefällt, wer mit wem gut ist und wer mit wem böse. Ohne die literatursoziologische Wichtigkeit mancher Gruppen- und Kote-rienbildungen für die Literatur, zumal der letzten zweihundert Jahre, zu unterschätzen, ist sie literaturgeschichtlich doch wohl höchstens als Teil-Erklärung besonderer Formen des Hervorgebrachten von Belang.

Eine Hauptaufgabe solcher Übersicht, die Herausarbeitung besonders charakteristischer Züge des österreichischen, wird nur in recht kümmerlichen und oberflächlichen Ansätzen am Beginn und auf der letzten Seite gelöst. Die zahlreichen historischen und literaturwissenschaftlichen Beiträge zu diesem Problem von Friedrich Heer bis William M. Johnston und von Roger Bauer bis Heinz Politzer sind gar nicht erwähnt, der Beitrag von Claudio Magris lediglich flüchtig gestreift, die einsichtsvolle Essay-Sammlung Hans Weigels „Flucht vor der Größe“ ist lediglich als Titel lobend vermerkt.

Dafür wird Graz als „Hauptsitz der österreichischer^ Avantgarde“ apostrophiert, aber eine Seite später bereits als offen gegenüber allen Richtungen und Generationen charakterisiert, was sich kaum mit avantgardistischem Aktivitätsstreben vereinen läßt. Mit unverhohlen restloser Zustimmung werden Gerhard Ruhms Anwürfe gegen die „provinzielle Reihe“ Rudolf Feimayers „Neue Dichtung aus Österreich“ zitiert. Warum eigentlich? Weil Felmayer als einer der ersten in seiner Reihe Bände von Ernst Jandl, Friederike Mayröcker, Gerhard Fritsch und Gerald Bisinger brachte? Doch wohl kaum, da diese zu den hochgelobten „Progressisten“ gehören. Dann richtet sich der Vorwurf des Provinzialismus wohl gegen die erstmalige Veröffentlichung von Werken Rudolf Kassners und Güterslohs, H. G. Adlers, Hermann Brochs, Johannes Urzidils? Oder gegen die neuerliche Zugänglichmachung von Werken Werfeis und ödön von Horvaths? Oder?

Auf ähnlichem Niveau wie die „Einführung“ Hilde Spiels bewegt sich auch der zweite Teil, „Prosa“, von Paul Kruntorad. Er bringt es fertig, im Fall von Torbergs Roman „Hier bin ich, mein Vater“, der sich um eine ausschließlich jüdische Thematik dreht, die tragische Verstrickung eines Wiener Juden, der Gestapospitzel wird, um zuletzt, nach einer Aussprache mit seinem früheren Religionslehrer, Wesen und Aufgabe des Judentums und damit seine Schuld zu erkennen, von entbehrlicher, jüdischer Garnierung“ zu sprechen. Exilautoren werden in der Regel mit einem Satz oder gar nicht erwähnt.

Gemessen an den ersten beiden Teilen des Buches, wirkt der dritte von Kurt Klinger wie ein Labsal. Obwohl im Detail auch hier oft falsche Wegweiser aufgerichtet werden, besteht der große Bogen seiner Darstellung zu Recht, der mit der Exillyrik einsetzt und über den Gipfel der Verse Paul Celans zu den darauffolgenden Verflachungen und Niedergängen führt.

Der vierte Teil, über die Dramatik, verfaßt von Gotthard Böhm, wiewohl gleichfalls besser als die beiden ersten Teile, geht von dem methodologischen Fehlansatz aus, daß er an Stelle einer literarhistorischen Darstellung an Hand der entstandenen Dramen eine Abfolge von Inszenierungen behan; delt Auf solche Weise folgt ödön von Horvath auf die hier ebenso ausführlich wie er behandelten „Dramatiker“ Otto Mühl und Günther Brus! Unauf-geführte Stücke werden allerdings wenigstens behandelt, in der Regel nach dem jeweils zuletzt aufgeführten Drama desselben Autors.

Mit einer kurzen Darstellung des österreichischen Hörspiels, die so windschief ist wie die beiden ersten Teile, sowie mit verdienstvollen Hinweisen auf die Literatur der österreichischen Slowenen in Kärnten wie der österreichischen Kroaten im Burgenland schließt diese „Literaturgeschichte“, deren wirklich Gutes vor allem in der Ausstattung und im ausgezeichneten Bilderteil liegt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung