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Schlag nach bei Solschenizyn
Um Alexander Solschenizyn ist es still geworden. Die Entwicklung in den Staaten der ehemaligen UdSSR scheint seine Berühmtheit und seine Wirkung überrollt zu haben. Der alte Mann in seinem Gut im amerikanischen Vermont, hinter hohen Mauern mit allen Sicherheitsvorkehrungen gegen Feinde aus dem Kreml - das wirkt ein wenig gestrig.
Allerdings, daß es tatsächlich gestrig wirkt, daran ist dieser Alexander Solschenizyn in hohem Grad mitbeteiligt. Gerade jetzt, da die krisenhaften Geburtswehen neuer Staaten auf dem Gebiet der einstigen Sowjetunion die Geschichte wieder in Bewegung gebracht haben, da die eigentlichen Probleme hinter der geschmolzenen Eiswand sichtbar werden und Entwicklungen geschehen können, die längst hätten stattfinden sollen, eben jetzt wäre es an der Zeit, sich neuerlich mit der Rolle Alexander Solschenizyns zu beschäftigen.
Als im „Tauwetter" sein „Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" erscheinen konnte, als - bereits nur mehr im Westen - „Der erste Kreis der Hölle" und die „Krebsstation" herauskamen, widerhallten die Massenmedien von seinem Namen. Seine Bände des „Archipel Gulag" brachten die kommunistischen Parteien im Westen beinahe zum Einsturz, die marxistisch-leninistischen Intellektuellen in Paris, Rom, West-Berlin mußten endlich die Wahrheit über ihre große Bruderpartei im Osten erkennen.
Damals schwenkten einige glühende Anhänger Lenins im Westen um und wurden leidenschaftliche Gegner der kommunistischen Partei, wie Bernard Henry-Levy und Andre Glücksmann („Die.Köchin und der Menschenfresser"). Als Alexander Solschenizyn 1970 den Nobelpreis erhielt, konnte er nicht ausreisen, und in der UdSSR durfte nichts mehr erscheinen. In Hausdurchsuchungen wurde Jagd auf seine Manuskripte gemacht, eine ehemalige Sekretärin wurde in den Selbstmord getrieben. 1974 setzte man ihn in ein Flugzeug und zwang ihn in die Emigration. Sein mehrbändiges Romanwerk über die russische Revolution von 1917 „Das rote Rad" fand bereits sehr viel weniger Resonanz als seine früheren Bücher. Die politische Motivation für das Aufsehen war vorbei.
Die Tatsache, daß Alexander Solschenizyns Romane und Manifeste im Samisdat, in Zehntausenden handgeschriebenen Kopien, wesentlich zu Gorbatschows Perestrojka und Glasnost beigetragen haben, wird niemand bezweifeln. Hat er aber, gerade indem er die Befreiung vom Kommunismus mitbewirkte, die Aktualität seiner Themen, die Notwendigkeit seiner Bücher selbst reduziert?
Greift man heute wieder nach einem seiner Werke, so gewinnt man den gegenteiligen Eindruck: Vor seiner grandiosen dichterischen Dokumentation, die sich mit Tolstojs „Krieg und Frieden" und Dostojewskijs „Dämonen" vergleichen läßt, ermißt man erst in voller Deutlichkeit, welch ein historisches Ereignis die Wende der letzten Jahre war. Und gerade jetzt, da inmitten der großen Krisen so viele Zweifel aufkommen, ist die neuerliche Lektüre von Alexander Solschenizyns Büchern dringend zu raten.
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