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Schlechte Zeiten für Geisteswissenschafter

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Neueste Zahlen bestätigen: Die unübersichtliche Gruppe der Geistes- und Naturwissenschafter ohne Lehramt stellt die meisten arbeitslosen Akademiker in Österreich.

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Neueste Zahlen bestätigen: Die unübersichtliche Gruppe der Geistes- und Naturwissenschafter ohne Lehramt stellt die meisten arbeitslosen Akademiker in Österreich.

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1350 arbeitslose Akademiker registrierte das Sozialministerium in seiner jüngst veröffentlichten Statistik von Ende März 1984. Im März 1983 waren es 1155, im September 1983 1311 gewesen. Aber obwohl die Gesamtzahl gestiegen ist, scheint sich die Situation zu stabilisieren, die Kurve nach oben verflacht. Nur in drei Bundesländern sind die arbeitslosen Akademiker im letzten halben Jahr noch mehr geworden: in Wien, in Oberösterreich und im Burgenland.

Freilich sind in der Statistik nur jene enthalten, die bei einem Arbeitsamt als arbeitslos gemeldet sind. „Die Dunkelziffer dürfte mindestens noch einmal so hoch sein", schätzt vorsichtig der Bildungsexperte Lorenz Laßnigg vom Institut für Höhere Studien in Wien. Und auch seitens der Arbeitsämter ist man sich dessen bewußt, daß Akademiker vor dem Arbeitsamt „Schwellenangst" haben: Sie reden sich ein, ein Akademiker müsse auch ohne Arbeitsamt zu einem Job kommen können.

Die meisten dieser 1350 Hochschulabsolventen ohne Anstellung fallen in die G/uppe „Philosophische Studien in Verbindung mit geistes- und naturwissenschaftlichen Studienrichtungen", nämlich 248 (gefolgt von Technik mit 221 und Rechtswissenschaften mit 219). Mit dieser Gruppe, zu der an die 80 Studienrichtungen, darunter die sogenannten „Orchideenfächer" von Ägyptologie bis Volkskunde, von Byzantinistik bis Theaterwissenschaft, zählen, haben die Arbeitsämter die größten Schwierigkeiten.

So trist die Lage für die Lehramtskandidaten sein mag, für jene, die ähnliche Studien als Diplomstudium (mindestens acht Semester Dauer) oder Doktoratsstudium (mindestens zehn bis zwölf Semester) betreiben, ist sie noch trister. Für sie gilt besonders, was die Arbeitsmarktverwaltung, aber auch die Bildungspolitiker seit Jahren predigen: Ein Recht auf einen akademischen Arbeitsplatz gibt es nicht!

So hat zwar der, der die zwei Studienabschnitte mit den zwei Diplomprüfungen bewältigt hat und sich Magister nennen kann, und jener, der noch einige Semester angehängt und zwecks Doktortitel eine Dissertation verfaßt hat, einiges für seine Bildung getan, seine Chancen, mit seinem Hochschulwissen bereits an einem Arbeitsplatz beginnen zu können, sind aber recht gering.

Das gilt besonders für Kunstwissenschaften, in denen auch die

Abbruchrate während des Studiums relativ hoch ist. Viele Studenten merken, daß ihr Interesse an Theaterwissenschaft nicht so groß ist wie ihre Liebe zum Theater, ihre Sympathie für Publizistik nicht so groß wie ihr Interesse am Medienwesen, daß zudem die beruflichen Aussichten schlecht sind und der Studienabschluß für sie, die doch vor allem an der Praxis interessiert sind, mit vielen theoretischen Prüfungen, Referaten, schriftlichen Arbeiten, mit dem Durchstöbern von Bibliotheken und der Aneignung eines komplizierten Fachvokabulars verbunden ist.

Die trotzdem bei der Stange bleiben, sind am Ende des Studiums meist die Illusion los, nun gleich groß ins Theater- oder Mediengeschehen eingreifen zu können, und ähnliches gilt auch für andere Fachgebiete.

So grundverschieden die Studienrichtungen im Bereich Geistes-, Grund- und Integrativ-, sowie Formal- und Naturwissenschaften auch sind, so einig sind sich die Experten der Arbeitsämter, daß die Berufsaussichten insgesamt schlecht sind, besonders dort, wor nur ein ganz bestimmtes Fachwissen vermittelt wurde, das in der Arbeitswelt kaum gefragt ist. Die Turkologen, Völkerkundler oder Musikwissenschafter, die Österreich wirklich braucht, sind vorhanden. Aber auch Germani-1 sten, Historiker, Psychologen und Philosophen gibt es bereits in Hülle und Fülle.

Zwar sind in all diesen Fächern nur einzelne Absolventen als arbeitslos gemeldet, aber das ist sicher nur die Spitze des Eisberges. Einige Beispiele:

Theaterwissenschaft 3

Publizistik 13

Turkologie 1

Völkerkunde 3

Musikwissenschaft 1

Germanistik 16

Geschichte 26

Psychologie 28

Philosophie 18

In den letzteren Fächern gibt es zusätzlich noch arbeitslose Akademiker mit Lehramtsprüfung. Grundsätzlich ist die Situation in den einzelnen Bundesländern etwas unterschiedlich. Während man in Wien vor allem Absolventen der Orchideenfächer kaum unterbringt, eher noch Naturwissenschafter wie Doktoren der Physik und Chemie, sind in den Landeshauptstädten, wo man diese Fächer zum Teil gar nicht studieren kann, die Arbeitsämter bisher weniger damit konfrontiert worden. In Salzburg gibt es momentan sogar drei freie Plätze für Kunsthistoriker fürs sogenannte ..Akademikertraining".

Diese Einrichtung, die Jungakademikern wenigstens für ein halbes Jahr einen mehr schlecht als recht, aber immerhin bezahlten Job bietet, hat sich nach Ansicht der Arbeitsmarktverwaltung voll bewährt. Derzeit absolvieren rund 650 — nicht in der Arbeitslosenstatistik erfaßte - Leute dieses Training, erfahrungsgemäß erhalten viele im Anschluß daran eine Dauerbeschäftigung.

Wenn das Arbeitsamt einen Geisteswissenschafter „unterbringen" kann, so heißt das in den seltensten Fällen in einem seiner Ausbildung entsprechenden Beruf. So landeten — mit und ohne Arbeitsamt — Historiker in Banken oder Versicherungen, Germanisten in der EDV-Branche und Theaterwissenschafter bei Zeitungen oder im Rechnungshof.

Flexibilität und Mobilität ist notwendig, sagen die zuständigen Referenten im Sozialministerium und in den Arbeitsämtern. Ohne

Zusatzkenntnisse oder zumindest die Bereitschaft, sich durch Kurse weiterzubilden, steht man meist auf verlorenem Posten. Wer sich also heute den Luxus eines Studiums der Geisteswissenschaften leistet, sollte wissen, was in der Berufswelt von heute besonders wichtig ist:

• Nachweis von Berufspraxis, zumindest von Ferialarbeit während des Studiums

• Besuch von Zusatzkursen, in erster Linie Buchhaltung, EDV und Kostenrechnung.

„Wer eine HAK-Matura hat, hat es leichter, egal, was er nachher studiert hat", erklärt die zuständige Dame im Landesarbeitsamt Salzburg.

Wer geschickt ist, kann auch durch Erwerb bestimmter Zusatzkenntnisse in einem seinem Studienfach verwandten Gebiet Fuß fassen. Vor allem bei Biologen ist es notwendig, aber auch möglich, diesen Weg zu gehen: zum Beispiel in die pharmazeutische Industrie. Publizisten tun gut daran, sich intensiv mit jenen neuen Medien zu beschäftigen, die Zukunft haben dürften, etwa mit dem Bildschirmtext.

Patentrezepte gibt es keine, der Arbeitsmarkt ist jedenfalls derzeit nicht in der Lage, die Akademiker dieser Gruppen aufzunehmen, sofern sie nicht über ihr Studium hinausgehende Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen. Das dürfte sich auch während der Studienjahre derer, die im Herbst 1984 erstmals inskribieren, kaum ändern, aber darüber wagt niemand eine Aussage. Ganz schlecht schaut es sicher für jene aus, die in die Kategorie „bedingt vermittlungsgeeignet" fallen: Behinderte, Straffällige, Kranke, Trunksüchtige, ältere Menschen, Schwangere.

Noch etwas besser dran als die Geistes- und Naturwissenschafter sind die Dolmetscher und Ubersetzer, obwohl der Sprung zum Simultan-Dolmetsch nur „mit Glück", wie Insider wissen, zu schaffen ist, und die Theologen ohne Lehramt und Priesteramt, obwohl nun auch für diese Gruppen schwierige Zeiten hereinzubrechen scheinen.

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