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Schlips für Renten

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Hassan ist sehr aufgeregt. An ihn erging die Aufforderung, sich im Büro der Teheraner „Sozialen Sicherheit“ zu melden und zwei Bilder und Ausweispapiere mitzubringen. Keinem Iraner ist es vor den Behörden so recht geheuer. Trotz der sommerlichen Hitze bindet Hassan sich als Zeichen der Würde einen Schlips um. Seine Arbeitgeberin, eine iranische Ärztin, begleitet Hassan, den • guten, seit zwölf Jahren bei ihr angestellten Koch. Nach zwei Stunden sind sie am Kopf der geduldig harrenden Menschenschlange angelangt. Vor lauter Aufregung bleiben Hassan oft die Worte im Hals stecken, und die Ärztin wird zum Dolmetsch. Schon mit den Papieren haperte es. Geburtsscheine waren in Fasa, seinem abgelegenen südiranischen Heimatort, nicht gerade die Regel. An das Jahr, in dem Hassan zur Welt kam, erinnerten sich selbst die Eltern nur höchst verschwommen. Bei elf Kindern, von denen sieben überlebten, bringt man leicht einiges durcheinander. Und Hassans Antlitz ist durch viele Sorgen und Nöte der Vergangenheit sozusagen zeitlos geworden. Er könnte vierzig, aber genausogut fünfzig Lenze zählen. Das heißt 41 oder 51, denn hier rechnet man auf den Tag der Zeugung zurück. Schließlich wird ein fingiertes Datum vermerkt. Untersdireiben kann der brave Koch nicht. Zwar erlernte er, als ihm die Ärztin eine Uhr schenkte, voller Stolz die Zahlen, das ABC blieb jedoch ein Buch mit sieben Siegeln. So wird ein Fingerabdruck auf das Dokument gesetzt Seither ist Hassan ein Kranken-, Unfalls- und Alterspensionsversicherter. Sollte er vor seiner Frau sterben, so bekommt sie eine Witwenrente.

Derzeit werden viele Hassans, Alis, Fatmas und Farides in die Büros der „Sozialen Sicherheit“ eingeladen und registriert, denn das Parlament hat einem neuen Gesetz zugestimmt, das den Kreis der Versicherten wesentlich erweitert und die Leistungen verbessert. Chefplaner dieser selbständigen Behörde ist Dr. Hossein Cyrus Achmadi.

Tatsächlich geschah bereits eine ganze Menge. Ob es allerdings glücken wird, wie das der Ministerpräsident Abbas Ali Hoveyda voraussagte, innerhalb der nächsten zwanzig Jahre das gesamte iranische Volk — heute 33 Millionen, 1995 wahrscheinlich rund 50 Millionen — gegen alle Unbill des Lebens zu versichern, muß abgewartet werden.

1963 begannen im Iran die ersten schüchternen Anfänge einer modernen sozialen Sicherheit. Fünf Jahre später untermauerte der Schah diesen Komplex mit einem fortschrittlicheren Gesetzentwurf. Damals schon nannte er als Endziel „Sicherheit von der Wiege bis zur Bahre“. Das neue Gesetz will nun bis 1978, also bis zum Ende des laufenden Frühjahresplanes, wenigstens fünfzehn Millionen Iraner erfassen.

Wie die Dinge liegen, gibt es allerdings viel zu wenige Ärzte und Zahnärzte“Urid ttleht“genug Schwestern, Heilgehilfen, Hebammen und sonstiges medizinisches Persopal. Audi der nach strenger Auslese für das Studium der Medizin zugelassene Nachwuchs wird den Bedarf auf sehr lange Zeit hin kaum zu decken vermögen.

Noch ist der Iran ein überwiegend agrarisches Land, mag auch die Zuwanderung in die Städte ständig zunehmen. Achtzig Prozent der Dörfer haben unter fünfhundert Einwohner. Darin liegen die Schwierigkeiten für den ambulanten Gesundheitsdienst. Angesichts einer unzureichenden Infrastruktur fehlt es an Straßen für motorisierte Fahrzeuge, seien es auch nur Jeeps. Freilich vollbringt das Gesundheitskorps, in dem man mit Hörrohr und Thermometer statt mit der Waffe dient, gelegentlich Wunder.

Manche Dorfbewohner haben dank Ambulanzdienst und medizinischem Korps zum erstenmal in ihrem Leben einen Arzt gesehen. Neue Schwierigkeiten dürften sich auftürmen, sobald, wie schon 1970 geplant, auch alle Landarbeiter krankenversichert sein werden und von den damit verbundenen Rechten

Gebrauch machen., Sehr weit ist hier das Feld der „Dorfsamariter“. Sie sollen Impfungen durchführen, zeigen, wie man eine Wunde verbindet oder ein Geschwür beseitigt, die hohe Kinder- und Säuglingssterblichkeit bekämpfen und den Bauern beibringen, auf welche Weise man sanitäre Anlagen errichtet.

Wohl am empfindlichsten macht sich der Mangel an Zahnärzten bemerkbar. Medizinische Betreuung ist auch ein Anrecht werdender und junger Mütter.

Über sechs Millionen Arbeiter und anderthalb Millionen Beamte wurden bis jetzt gegen Tod, Arbeitsun-■ffille—und. Arbeitsunfähigkeit versichert. Bisher war die Hinterbliebenenrente nach dem Ableben des Haupt- und oft Alleinverdieners gering und dem Mindestlohn angepaßt Jetzt soll sie dem Durchschnittseinkommen des Verstorbenen während der letzten zwei Arbeits jähre entsprechen, plus Inflationsindex.

Dreißig Prozent des Lohnes sollen nach dem 21. März 1976 als Beitrag für die Gesamtversicherung erhoben werden. Davon trägt der Arbeitgeber zwanzig Prozent, der Arbeitnehmer sieben Prozent und der Staat drei Prozent Alle finanziellen Rücklagen legt die „Soziale Sicherheit“ auf der Wohlfahrtsbank an und erhält dafür achteinhalb Prozent Zinsen.

Arbeitslosenversicherung ist noch Zukunftsmusik, aber auch bereits in Planung.

Freilich würden deutsche, österreichische und Schweizer Arbeitskollegen des Kochs Hassan manche Versicherungsleistungen, die er zu erwarten hat kaum als ausreichend ansehen. Bedenkt man jedoch, daß Hassans Vater allem Unbill des Daseins noch völlig schutzlos ausgeliefert war, so ist der Sohn vergleichsweise schon ein Glückspilz.

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