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Schneesturm, tiefe Nacht

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An jenem Tag hielt auf der Ausweichstelle Schnee-sturm-Boranly spätabends noch einmal ein Personenzug. Nur fuhr er jetzt in die umgekehrte Richtung. Und er hielt gleichfalls nicht lange. Etwa drei Minuten.

Auf seine Einfahrt, schon im Dunkeln, warteten am ersten Gleis jene drei in Chromleder stiefeln, die Abutalip Kuttybajew jetzt mitnahmen; in einiger Entfernung, abgeschirmt durch ihre schweren Rücken, die Abutalip verdeckten, standen die Boranly-er. Satipa mit den Kindern, Edige und Ukubala und der Leiter der Ausweichstelle, Abilow, der unablässig hin und her lief in müßi-

ger und kleinlicher Geschäftigkeit, denn der Zug hatte eine halbe Stunde Verspätung.

Kasangap indes, der wegen der unglückseligen Legenden, die man bei Abutalip entdeckt hatte, gleichfalls verhört worden war, befand sich zu jener Stunde an der Weiche. Ihm blieb es vorbehalten, eigenhändig den Zug auf jenes Gleis zu leiten, auf dem sie Abutalip abtransportieren sollten, weit weg von der Sary-Ösek-Steppe.

Jene drei in Stiefeln, mit abweisend gegen den Wind hochgeschlagenen Kragen, die Abutalip mit ihren Rücken von den andern trennten, schwiegen beharrlich. Auch die Boranlyer, die von ihm Abschied nahmen, schwiegen.

Der Wind fegte raschelnd, mit kaum hörbarem Pfeifen, Schnee über den Boden. Es sah ganz so aus, als nahte ein Schneesturm. Kalter Nebel quoll heran, spannte sich über dem undurchdringlichen Sary-Ösek-Himmel. Wüst, trostlos, leer schimmerte mühsam der Mond hindurch — ein fahler, einsamer Fleck. Frost brannte die Wangen.

Saripa weinte lautlos, in den Händen ein Bündel mit Eßwaren und Kleidung, das sie ihrem Mann übergeben wollte. Dampfwolken aus Ukubalas Mund verrieten die Seufzer, die sie fassungslos ausstieß. Unter ihrem Pelz barg sie DauL Der Junge ahnte wohl irgend etwas, er schwieg erregt, schmiegte sich an Tante Ukubala. Am schwersten hatten sie es mit Ermek, den Edige auf dem Arm trug und mit seinem Körper vor dem Wind schützte. Der Knirps war ahnungslos.

„Papika, Papika!" rief er den Vater. „Komm doch zu uns. Wir wollen mitfahren!"

Abutalip zuckte zusammen, sooft er Ermeks Stimme vernahm, wollte sich unwillkürlich umdrehen und dem Kind antworten, aber sie gestatteten es ihm nicht. Einer der drei hielt es nicht länger aus.

„Steht hier nicht rum! Hört ihr? Verschwindet, herantreten könnt ihr später."

Sie mußten weiter weg gehen.

Da aber zeigten sich von fern die Lichter der Lokomotive, und alle gerieten in Bewegung. Saripa konnte sich nicht mehr beherrschen, schluchzte lauter. Und mit ihr weinte Ukubala. Der Zug brachte die Trennung. Mit dem Spitzensignal die dichten frostigen Nebelschwaden durchdringend, jagte er bedrohlich heran, schälte sich aus dem wogenden Dunst als dunkle, polternde Masse. Höher und höher, je näher er kam, hoben sich die flammenden

Scheinwerfer der Lokomotive über die Erde, immer sichtbarer wirbelte in den Lichtkegeln zwischen den Schienen der hineinfegende Schnee, immer vernehmlicher und besorgniserregender klang der Lärm der Auspuffschläge. Schon erkannte man die Umrisse des Zuges.

„Papika, Papika! Da, ein Zug!" schrie Ermek und verstummte erstaunt, weil der Vater sich nicht meldete. Abermals suchte er seine Aufmerksamkeit zu wecken: „Papika! Papika!"

Der um sie herumzappelnde Leiter der Ausweichstelle, Abilow, trat zu den dreien.

„Der Postwagen befindet sich am Kopf des Zuges. Bitte gehen Sie weiter, bitte sehr. Dahin."

Alle begaben sich in die ihnen gewiesene Richtung, schnell, denn der Zug erreichte bereits die Haltestelle. Voran, ohne sich umzublicken, ging das Geierauge mit Aktentasche, dahinter, Abutalip flankierend, seine beiden breitschultrigen Gehilfen, und in einiger Entfernung hastete Saripa hinterdrein, gefolgt von Ukubala

mit Daul an der Hand.

Edige ging nebenher, ein paar Schritt hinter ihnen, und hielt Ermek auf dem Arm. Er durfte nicht laut losweinen im Beisein der Frauen und Kinder. Und solange sie gingen, kämpfte er mit sich, suchte er den schweren Kloß in seiner Kehle zu bewältigen.

„Du bist doch ein kluger Junge, Ermek. Du bist klug, nicht Wahr? Du bist klug und wirst nicht weinen, ja?" murmelte er zusammenhanglos und preßte den Kleinen an sich.

Inzwischen verlangsamte der Zug die Fahrt und rollte aus. Der Junge auf Ediges Arm zuckte erschrocken zusammen, als die Lokomotive, die sich an ihnen vorbeischob, laut Dampf ausstieß und ein durchdringender Pfiff des Zugbegleiters ertönte.

„Keine Bange, keine Bange", sagte Edige. „Hab keine Bange, ich bin ja bei dir. Ich bleibe immer bei dir."

Der Zug hielt mit langem, schwerem Knirschen, die von Rauhreif und Schneestaub über-krusteten Wagen, halbblind durch die vereisten Fenster, erstarrten. Es wurde still. Doch schon stieß die Lokomotive zischend Dampf aus, schickte sich an, wieder abzufahren.

Der Postwagen folgte auf den Gepäckwagen hinter der Lokomotive. Die Fenster des Postwagens waren vergittert, die zweiflügelige Tür befand sich in der Mitte. Die Tür wurde von innen geöffnet. Heraus guckten ein Mann und eine Frau in Postlermützen, Wattehosen und Wattejacken. Die Frau, eine Laterne in der Hand, offensichtlich ranghöher, war massig und breitbrüstig. „Sind Sie es?" fragte sie und hielt die Laterne über den Kopf, um alle anzuleuchten. „Wir erwarten Sie. Der Platz steht zur Verfügung."

Zuerst stieg das Geierauge mit der großen Aktentasche hinauf.

„Los, los, wir haben keine Zeit", drängten sogleich die anderen zwei.

„Ich bin bald wieder zurück! Das ist ein Mißverständnis!" rief Abutalip hastig. „Ich bin bald wieder zurück. Wartet!"

Ukubala hatte sich nicht länger in der Gewalt. Laut schluchzte sie, als Abutalip sich von den Kindern verabschiedete. Er drückte sie, die verstört waren und nichts begriffen, so fest an sich,, wie er nur konnte, küßte sie und sprach auf sie ein. Die Lokomotive aber stand bereits unter Dampf. All das geschah beim Schein der Handlaterne. Und schon erklang, erneut wie Elektrizität den ganzen Zug durchlaufend, schrilles, markerschütterndes Pfeifen.

„Schluß jetzt Los, los, steig ein!" Die beiden zerrten Abutalip zum Trittbrett des Waggons.

Edige und Abutalip konnten sich zuletzt noch einmal fest umarmen, und sie erstarrten für einen Augenblick, einander nahe mit dem Verstand, mit dem Herzen, mit ihrem ganzen Sein, während sie die feuchten Stoppelwan-gen aneinanderrückten.

„Erzähl ihnen vom See!" flüsterte Abutalip.

Das waren seine letzten Worte. Edige verstand ihn. Der Vater bat ihn, seinen Söhnen vom Aralsee zu erzählen.

„Jetzt reicht's aber, los, fix, steig ein endlich!" Man zerrte sie auseinander.

Mit den Schultern von hinten nachhelfend, beförderten die beiden Abutalip in den Waggon. Und erst jetzt begriffen die Jungen die schreckliche Tatsache der Trennung. Gleichzeitig begannen sie laut zu weinen, gleichzeitig schrien sie: „Papika! Papa! Papika! Papa!"

Da stürzte Edige mit Ermek auf dem Arm zum Waggon.

„Wo willst du hin? Wohin? Bist du verrückt?,f Die Frau mit der Laterne stieß ihn wütend gegen die Brust und versperrte mit ihren schweren Schultern den Zugang zur Tür.

Doch niemand erfaßte in diesem Augenblick, daß Edige, wenn es hätte sein können, statt Abutalip weggefahren wäre, um unterwegs das Geierauge eigenhändig zu erwürgen — so unerträglich wurde sein Schmerz, als die Kinder losweinten.

„Steht hier nicht rum! Verschwindet, weg hier!" brüllte die Frau mit der Laterne. Aus ihrem Rauchermund traf Edige eine Wolke von Zwiebeldunst.

Saripa fiel ein, daß sie das Bündel noch in der Hand hielt.

„Da, gebt es ihm, es ist Essen drin!" Sie warf das Bündel in den Wagen.

Die Tür des Postwagens klappte zu. Alles wurde still. Die Lokomotive tutete und ruckte an.

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