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Schönheit aus dem Chaos

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Ein altes Wort ist plötzlich „in“, wird umgepolt von negativer zu positiver Besetzung, und wieder einmal scheinen Ergebnisse der modernen Physik von uralten Vorstellungen vorweggenommen worden zu sein. Das Wort, von dem die Rede ist: Chaos.

Schlag' nach im Brockhaus aus dem Jahr 1822: „Chaos, das erste von allem, was ward. Der Bedeutung des Worts nach, der Raum, der alles faßt, was in ihm wird. Nach Hesiod waren die vier Grundursachen, aus denen alles entstand, das Chaos, die Erde, der Tartaros und der Eros (Amor)... noch andere ließen aus dem Chaos Erde und Himmel entstehen, nur alle übrigen Dinge durch den Amor vollendet werden. Später dachte man sich unter dem Chaos die ausgebildete Materie___“

Noch wird dem Chaos nichts politisch Verdächtiges unterstellt. Noch könnte folglich Chaos durchaus ambivalent verstanden, als Ausgangspunkt gedeihlicher Entwicklungen gedacht werden.

100 Jahre später, 1925, definiert „Meyers Lexikon“ Chaos knapper, auch weniger poetisch: „ ,der klaffende, gähnende, leere Raum', daher der Weltraum vor der Schöpfung und die ungeordnete Materie, bevor sie zum Kosmos geformt wurde. In übertragenem Sinne svw. Wirrwarr; daher chaotisch, wirr.“

Noch schöner haben wir: die Übertragung gesellschaftlicher, ja politischer Ängste auf einen ebenso alten wie wertfaeienphilo-; sophischen Begriff beim Schlafittchen, wenn wir den großen Herder von 1953 aufschlagen. Da ist Chaos „im abgeblaßten Sprachgebrauch Aufhebung der gesellschaftlichen oder staatlichen Ordnung“, die drohende Alternative zu Schellings „Regel, Ordnung und Form“, wie wir „sie jetzt erblicken“, das Regellose, das noch immer im Grunde liegt, „als könnte es einmal wieder durchbrechen“.

Und jetzt ist wieder einmal alles anders. Noch 1981 zeigt sich „Meyers großes Taschenlexikon“ völ-

„Das Regellose, das im Grunde liegt, als könnte es wieder durchbrechen“ lig ahnungslos, was die neuen Vorstellungen vom Chaos betrifft. Aber der neue 24-Bänder von Brockhaus.ist natürlich up to date und referiert ausführlich über die Chaostheorie.

Die aber gab in den sechziger Jahren dem Meteorologen Edward Lorenz erste Lebenszeichen, als sich das Wetter in einer idealisierten, von allen Störfaktoren irdischer Wirklichkeit befreiten Computersimulation ebenso ver^ hielt wie in der Realität, nämlich unberechenbar, nahm in den frühen siebziger Jahren in einigen wenigen Gehirnen konkrete Gestalt an und ist heute dermaßen etabliert, daß sogar die US-Militärs und die CIA in die Chaosforschung investieren. Es gibt in den USA Zeitschriften für Chaos-theorie, Chaos-Kongresse, Chaos-Forschung mittlerweile an jeder besseren Universität und in Los Alamos sogar ein koordinierendes Chaos-Institut. Die Chaosforscher haben eine eigene Fachsprache entwickelt, und neuerdings gibt es auch eine Chaos-Literatur für Nicht-Chaologen. Eine seriöse Einführung in das nicht mehr exotische Forschungsgebiet schrieb der Wissenschaftsredakteur der „New York Times“,

James Gleick: „Chaos - die Ordnung des Universums; Vorstoß in Grenzbereiche der modernen Physik“ (deutsch bei Droemer Knaur).

Die Chaostheorie basiert, vereinfacht, auf zwei Erkenntnissen - einerseits der prinzipiellen Nicht-Prognostizierbarkeit von Systemen, in denen kleine Einwirkungen große Auswirkungen hervorrufen, etwa des Wetters. Beliebter Vergleich: Der Flügelschlag eines Schmetterlings in China kann, als eine winzige Einwirkung mit zunächst minimalen Folgen, die Entwicklung eines nahezu unendlich großen Systems von Ursachen und Wirkungen so verändern, daß Wochen später in den USA ein Tornado entsteht.

Rene Descartes vertrat die These von der Welt als Uhrwerk, dessen Zukunft bei absoluter Kenntnis seiner Gesetzmäßigkeiten und seines Zustandes in einem gegebenen Augenblick theoretisch auch in alle Zukunft mit absoluter Genauigkeit prognostiziert werden könne. Edward Lorenz verifizierte experimentell die Unberechenbarkeit von Bewegung und Bewegungsumkehr bei einem verhältnismäßig einfach gebauten Wasserrad unter konstanter Zuflußmenge (James Yorke ex-

,, Lösbar erscheinende, aber prinzipiell unauflösbare Gleichungen“ perimentierte mit speziellen Flipperautomaten) und legte in einem zunächst unbeachteten, dann von Jahr zu Jahr häufiger zitierten Aufsatz die auf den ersten Blick lösbar scheinenden, tatsächlich aber prinzipiell unauflösbaren Gleichungen zur Prognose chaotischer Systeme vor. Die andere Erkenntnis aber besagt, daß Nicht-Prognostizierbarkeit keineswegs Gesetzlosigkeit bedeutet, sondern daß im Zufallsverhalten chaotischer Systeme kausale Zusammenhänge bestehen bleiben „und Ordnungen oder fraktale Strukturierungen im Chaos vorhanden sind“.

Zu den bemerkenswertesten und überraschendsten Erkenntnissen der Chaosforschung zählt, daß stochastische, das heißt dem Zufall unterworfene Prozesse Strukturen entwickeln, die nicht nur bisher unbekannten Gesetzmäßigkeiten folgen, sondern auch von hohem ästhetischem Reiz sind. Es ist diese Ordnung aus dem Chaos, die immer mehr Wissenschaftler fasziniert und sie veranlaßt, diesem Prinzip in vielen Bereichen, auch im ökonomischen und ökologischen, auf den Grund zu gehen.

Man kann einwenden, daß un-prognostizierbare Systeme, Turbulenzen, Wirbel, die in immer kleineren Wirbeln „bis zur Viskosität“ (Lewis R. Richardson), strukturiert sind, nicht jenes absolut Ungeordnete darstellen, das man traditionell unter Chaos versteht.. Bloß: Wo überhaupt Materie ist, erweisen sich alle Prozesse als strukturiert, ohne Materie sind auch Raum und Zeit nicht mehr denkbar.

CHAOS - DIE ORDNUNG DES UNIVERSUMS. Von James Gleick. Droemer Knaur, München 1988. 448 Seiten, Bilder, öS 327,60.

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