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Schöpfer gegen Zerstörer

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In Moskau, das sich als drittes Rom versteht, geht es heute um die Frage, wer höher steht: der Papst oder das Konzil. Sprich: Präsident Jelzin oder der Oberste Sowjet. Es tobt ein beinharter Machtkampf zwischen „Parlament” und Staatspräsidenten, der für das wirtschaftlich darniederliegende Rußland tödlich ausgehen kann.

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In Moskau, das sich als drittes Rom versteht, geht es heute um die Frage, wer höher steht: der Papst oder das Konzil. Sprich: Präsident Jelzin oder der Oberste Sowjet. Es tobt ein beinharter Machtkampf zwischen „Parlament” und Staatspräsidenten, der für das wirtschaftlich darniederliegende Rußland tödlich ausgehen kann.

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Vereinfacht ausgedrückt stehen einander zwei starke, polternde Persönlichkeiten gegenüber. Der nach dem Putschversuch vor eineinhalb Jahren als Retter Gorbatschows und des freien Rußland - beziehungsweise damals noch der Reform-Sowjetunion -gefeierte Populist Boris Jelzin (62) und der steil aufgestiegene Parlamentspräsident Ruslan Chasbulatow (50).

Die Sache ist aber komplizierter. Traditio-. nelle politische Vorstellungen stehen im Ringkampf mit demokratischen Tastversuchen. Und dabei kann weder Jelzin, der sich als Sprücheklopfer im Westen den Ruf eines Alleskönners zu verschaffen suchte, volle demokratische Gesinnung zu- noch Chasbulatow, der sich auf die im Obersten Sowjet repräsentierte alte Gesellschaft stützt, ein gewisser demokratischer Geist vollkommen abgesprochen werden.

Fest steht, daß sich das neue Rußland kaum mit einem Präsidialsystem in schlechter totalitärer Zaren- oder Stalintradition künftig wird regieren lassen. Und schon gar nicht deswegen, weil die bisherige Amtsführung des Reformpräsidenten Jelzin keineswegs Anzeichen eines wirtschaftlichen Aufschwunges zuwege brachte, die der Bevölkerung Rußlands gezeigt hätten, daß es sich lohnt, initiativ zu werden und hart zu arbeiten. Der Rußlandexperte und Leiter des Bonner Forschungsinstituts für russische Gegenwart, Michael Voslensky, hat kürzlich auf diese sich schon lange abzeichnende Gefahr für die Reformer aufmerksam gemacht: „Jelzin muß sehr ernst darüber nachdenken, wie er sich in den Augen der Bevölkerung dermaßen positiv profiliert, um sie zu überzeugen, daß die Situation besser ist als die Rückkehr zum Breschnew-Zustand.” Privatisierung ist für Voslensky die Lösung, etwas, das der für die Wirtschaftsreformen zuständige erste stellvertretende Ministerpräsident Jegor Gaidar, mittlerweile nach schärfster Kritik entlassen, nicht rechtzeitig und im notwendigen Umfang anging.

Falscher Reformschritt

„Der grobe Fehler Gaidars war es, zuerst die Preise freizugeben und erst danach mit der Privatisierung zu beginnen”, klagt Voslensky. Die Bevölkerung hat im Zusammenhang mit der Tatsache, daß alles noch im Staatseigentum war, die ab 2. Jänner 1992 stufenweise erfolgte Preisfreigabe nur als dramatische v Preiserhöhung gesehen. So stiegen die Lebenshaltungskosten bis Ende Juli des Vorjahres um rund 1.000 Prozent. Ganz grob zusammengefaßt kann man sagen, daß dieser falsche Reformschritt den Russen eine durchschnittliche Preiserhöhung auf das Fünf- bis Zehnfache brachte, während sich das Durchschnittseinkommen nur verdoppelte. Der durchschnittliche Monatslohn beträgt in Rußland heute etwa 4.500 Rubel, umgerechnet rund 350 Schilling. Die Hälfte der russischen Bevölkerung soll nach Schätzungen des Staatlichen Komitees für Statistik bereits unter dem Existenzminimum von 2.150 Rubel im Monat für Arbeiter und 1.715 Rubel für Rentner leben.

Der Ruf nach einem anderen starken Mann, nachdem sich der bisherige Tausendsassa als nicht stark genug erwiesen hat, wird in einer Gesellschaft ohne demokratische Erfahrung immer lauter. Auf dieser Welle schwimmt Parlamentspräsident Chasbulatow, der sich auf die nicht gewählten Volksvertreter im Obersten Sowjet beziehungsweise im Volkskongreß beruft und diesen - als höchstes, verfassunggebendes Organ im Staat - in ein Zweikammernparlament umwandeln möchte. Aus der jetzigen zweistufigen Legislative -1.046 Deputierte im Volkskongreß und 248 Abgeordnete im Obersten Sowjet - soll nach seinen Vorstellungen ein Parlament mit 500 bis 600 Abgeordneten entstehen.

Zweifelhafter Parlamentarismus

Bisher hat mae vor diesen parlamentarischen Vostellungen Chasbulatows immer mit dem Hinweis gewarnt, daß es sich bei den Abgeordneten im Gegensatz zum mit großer Mehrheit gewählten Präsidenten Jelzin um keineswegs durch Wahlen legitimierte Abgeordnete, die das alte System repräsentieren, handelt. Nun fällt ein neues Licht auf des Parlamentspräsidenten Vorstellungen: Er wetterte gegen die Machtfülle des Staatspräsidenten mit dem Argument, daß sie überholt sei, weil man nun nicht mehr gegen die zentrale Sowjetmacht kämpfen müsse, gegen die das russische Präsidentenamt eingeführt worden war. Vorgezogene Parlaments- und Präsidentenwahlen - spätestens im Frühjahr 1994 - sollen nach Chasbulatows Auffassung die Machtfrage demokratisch regeln.

Jelzins Seite kämpft scharf, aber offensichtlich vergeblich gegen diese Pläne: Man weist daraufhin, daß mit der Verfassungsänderung, wonach das Staatsoberhaupt seine wichtigsten Vollmachten verlöre, es nur noch den Ministerpräsidenten dem Obersten Sowjet zur Bestätigung vorschlagen dürfte und dieser ausschließlich mit

Zustimmung des Obersten Sowjets seine Regierung bilden sollte, eine totale Abhängigkeit der Regierung von diesem Parlamentsgremium entstünde.

Vergangenen Donnerstag hat Jelzin in einer Fernsehansprache, bei der er sehr müde und unkonzentriert wirkte, noch einmal eine gewisse Hoffnung auf die von ihm und Chasbulatow beauftragte Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung einer Verfassungsübereinkunft zur Überwindung der Machtkrise gesetzt. Sollte in den nächsten Tagen kein Ergebnis erzielt werden, könnte nach Jelzins Ansicht noch immer ein Referendum am 11. April eine Lösung bringen.

Allerdings heißt es, daß sich das Interesse der russischen Bevölkerung, zu den Urnen zu gehen, in Grenzen halte. Zur Russischen Föderation gehörende Republiken wie Kardien, Tartastan und Tschetschenien sollen sogar schon eine Boykottierung des noch nicht einmal angesetzten Referendums angedroht haben. Damit haben sie eine drohende Spaltung Rußlands am Horizont erscheinen lassen. Jelzins Informationschef Michail Poltoranin hat zu Beginn dieser Woche vor den separatistischen Tendenzen in den Regionen gewarnt, die durch Angriffe der Konservativen auf Jelzin verstärkt würden.

Kommunisten als lachende Dritte

Während Jelzin auf wirtschaftliche Gesundung und politischen Frieden setzt und nicht wahrnimmt, daß er selbst mit ein Grund zum inneren Unfrieden geworden ist, setzen die Leute um Chasbulatow auf „Schöpfer” eines neuen Rußlands; die Zeit der Zerstörer” sei vorbei. Im Hintergrund lauern die alten Kommunisten, deren Partei Jelzin nach dem Putschversuch vom August 1991 verboten hat. Vor zwei Wochen wurde die russische KP neu gegründet. Gründungsmitglieder: die mittlerweile aus der Haft entlassenen Putschisten, darunter der ehemalige KGB-Chef Wladimir Krjutschkow. Wird die alte Garde zum lachenden Dritten im Streit um die Macht, der für Rußland unter diesen Umständen tödlich ausgehen könnte?

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