Angst ist nicht gleich Angst, es gibt verschiedene „Ängste", meine Einteilung ist unvollständig und anfechtbar, aber dennoch will ich versuchen, in diesem knappen Rahmen die drei für unsere Zeit wichtigsten zu differenzieren.
1. DIE „REALANGST" entsteht als Reaktion auf ein angsterregendes Geschehen. Was uns „berechtigt", Angst zu haben, dafür gibt es zahlreiche „objektive" Kriterien. Solche angsterregende Situationen lassen sich nicht vermeiden, sie sind lebensimmanent, wie es so schön heißt, und ihre Beantwortung mit Angst ist nicht nur lebensnotwendig, sondern oft auch lebenserhaltend: denn oft genug hat uns Angst in kritischen Umständen gerettet und wir wären zugrundegegangen, hätten wir nicht Angst als Warnung vor eigenem Ubermut, Unterschätzung der Gefahr, unüberlegtem Tun entwickelt.
Aber es gibt dabei eine Angst, die die richtigen Abwehrmaßnahmen fördert, Aktivität entstehen.läßt, und eine andere, die zur Lähmung des Betroffenen (nach Art des Kaninchens vor der Schlange) führt: Wir sehen diese beiden Verhaltensformen etwa bei Krebskranken — sie spielen eine beträchtliche Rolle für eine Weichenstellung hin'zu einem besseren oder schlechteren Verlauf der Krankheit.
Die beschriebene „situative Not" ist immer eine Auseinandersetzung zwischen betroffener Person und auslösendem Anlaß, sie führt zu einer Krise, deren Verlauf einerseits abhängig ist vom Ausmaß der Gefahr, andererseits von der psychischen Struktur des Betroffenen. Schon die „Wertigkeit" eines angstauslösenden Traumas unterliegt auch „subjektiven" Aspekten, jeder hat seine „wunden Punkte" (persönliche Vorgeschichte), auf die er besonders angsterfüllt reagieren wird.
Wenn die Balance in diesem Kampf gewahrt bleibt, wird Ent-ängstigung eintreten können. Wenn aber die Person mit Passivität, Resignation, Hoffnungslosigkeit reagiert, wenn sie den angstauslösenden Moment zur Ewigkeit ausdehnt und damit jede Gestaltungsmöglichkeit entschwindet, die Gefahr riesengroß, sich selbst aber klein und ohnmächtig ausgeliefert sieht, wird die Angst zur Panik und zu Panikreaktionen führen.
Mehr als sonst braucht daher der Mensch in der angstvollen Krise die Hilfe seines Mitmenschen durch Beruhigung, Zeit-Gewinnen, Information (richtige Beurteilung), Ermutigung und Aktivierung.
Die Welt ist voll angstauslösender Dinge, aber mehr, als man bei oberflächlicher Betrachtung annimmt, lassen sich durch Solidarität (die wir freilich zuwenig lernen) meistern.
2. DIE NEUROTISCHE ANGST ist eine Erkrankung und entsteht in den ersten Lebensjahren. Erwachen in einem Kind Aggressionen gegen seine nächsten Angehörigen (Vater, Mutter), so hat es nicht jene drei Möglichkeiten, die dem Erwachsenen zur Verfügung stehen: nämlich Ausleben, Uberwinden und Verdrängen.
Dem Kind ist es unmöglich, Aggressionen gegen die Eltern auszuleben, ja nur gedanklich an ihnen festzuhalten; das Kind ist in seinem gesamten Sein von diesen Eltern abhängig und auf sie hingeordnet, daher wäre eine Aggression gegen sie mit der Existenz unvereinbar.
Andererseits ist das kleine Kind ein geistig noch viel zu gering differenziertes Wesen, um Aggressionen überwinden zu können. Daraus folgert, daß dem Kind, wenn solche Aggressionen in ihm erwachen, nur eine Möglichkeit bleibt, nämlich die Verdrängung; es muß also verdrängen.
Vielfach erfolgt die Verdrängung des Kindes in der Weise, daß bestimmte peinliche Empfindungen (z. B. Aggressionen gegen die Eltern) erst gar nicht ins Bewußtsein eingelassen werden. Es findet also gleichsam eine ' Vorzensur statt. Die Wiederbewußtmachung solcher früh und besonders tief verdrängter Gefühle ist dementsprechend ungleich schwieriger als die von relativ kurz zurückliegenden Verdrängungen des Erwachsenen — was bedeuten wird, daß neurotische Reaktionen wesentlich leichter heilbar sind als in die Kindheit zurückgehende Neurosen.
Jedenfalls kann man bei den echten Neurosen infolge ihrer hier beschriebenen Entstehungsgeschichte auf gar keinen Fall von einem moralischen Problem sprechen, es sei denn, daß die Eltern die moralische Verpflichtung hätten, das Kind nicht zu neurotisie-ren. (Freilich sind sie selbst oft genug in ihrer eigenen Kindheit neurotisiert worden und geben daher die Krankheit durch falsches Verhalten in einer tragischen Staffette weiter).
Aus dem Gesagten ergibt sich erstens die ungeheure psychohy-gienische Bedeutung der ersten Lebensjahre. Diese Zeit, die wir auch heute noch so sträflich unterschätzen, ist es, die über psychische Gesundheit oder Krankheit eines Menschen eine erste große Entscheidung fällt. Auf welchem Gebiete auch immer in diesem Jahrhundert psychologisch geforscht wurde, immer von neuem konnte die fundamentale Entdeckung Freuds über die Bedeutung der Kindheit Bestätigung finden.
Zum zweiten aber ergibt sich aus diesen Ausführungen, wodurch eine Neurose in der Kindheit entstehen wird; durch Situationen, die Aggressionen des Kindes gegen die ihm liebsten Personen heraufbeschwören. Diese Aggressionen müssen dann verdrängt werden, und es wird auf diese Weise bereits in der kindlichen Seele jener erste und entscheidende neurotische Zwiespalt zwischen bewußter Zuneigung und unbewußter Abneigung entstehen, den wir als Ambivalenz bezeichnen.
Solche Aggressionen des Kindes werden nun — das kann nicht oft genug betont werden — nicht durch ein einmaliges seelisches Trauma heraufbeschworen, sondern immer nur durch eine lange andauernde traumatisierende Situation.
Da heute immer mehr Kinder neurotisiert werden (weswegen ich die neurotische Angst für das wichtigste Problem unserer Zeit halte), wäre es besonders wichtig, die Tatsache der stattgehabten Neurotisierung wenigstens an ihren ersten Symptomen zu entdek-ken.
Das erste Symptom jeder Neurotisierung wird das Auftauchen und Anhalten eines unerklärlichen und unheimlichen Angstgefühles sein. Diese unfaßbare und wesenlose Angst muß natürlich grundsätzlich von jeder Realangst unterschieden werden. Wenn ein Kind sich einmal vor einem dunklen, ihm unbekannten Raum fürchtet, ist dies eine durchaus normale, verständliche Realangst. Wenn sich aber eine allgemeine Ängstlichkeit entwik-kelt, die jedes Alleinbleiben und jeden dunklen Raum zu vermeiden trachtet, deutet dies auf eine neurotische Symptomatik hin.
Die Geburtsstunde jeder Neurose ist, wie wir gesehen haben, die Verdrängung von Aggressionen ins Unbewußte; diese aber haben ihrerseits die Tendenz, wieder ins Bewußtsein einzudringen. Ein solches ständiges Drängen wird aber von der Person als Bedrohung der Integrität erlebt und dementsprechend mit heftiger Angst beantwortet.
Diese auftauchende Angst trifft beim Kinde, im Gegensatz zum Erwachsenen, auf eine unreife Persönlichkeit, die sich noch nicht in einer bestimmten einheitlichen Art und Richtung mit ihr auseinandersetzen kann. Daher wird aus der primären neurotischen Angst eine bunte Palette neurotischer Symptome entstehen können.
Der Erwachsene hingegen vermag seine Angst zu rationalisieren, d. h. vermeintliche Gründe für seine Angst zu finden. So entstehen die „Phobien", wobei immer Dinge für diese Rationalisierung gewählt werden, die in einer bestimmten Zeit besonders angstauslösend und — erklärend sind: noch vor 50 Jahren dominierte daher die Luophobie, jetzt ist die Krebsangst an ihre Stelle getreten.
Die Rationalisierung ist für den Neurotiker zuerst eine Entlastung (weil er jetzt eine Ursache gefunden zu haben glaubt), auf längere Sicht aber hat sie schlimme Folgen: Nun wird der Verdacht ja auf eine falsche Spur und von der eigentlichen (unbewußten) Ursache abgelenkt — es handelt sich also um eine Sackgasse.
Ebenso verhängnisvoll wie die Debatte um die vermeintliche Ursache wäre der Versuch, die neurotische Angst durch Appelle an den Willen zu überwinden, wie es leider in unserem Land immer wieder geschieht. Was bei der Realangst einen Sinn haben mag („Nimm dich zusammen!"), kann hier nur zu einer Verstärkung der Symptome führen, weil damit gerade das vom Patienten (die Neurose ist eine Krankheit) verlangt wird, was er aufgrund seiner Erkrankung nicht zu leisten imstande ist.
Für die neurotische Angst gibt es nur eine wirkliche Hilfe: die Aufdeckung der bislang unbewußten Ursache durch eine gute Psychotherapie. (Auch die entängstigenden Psychopharmaka vermögen nur das Symptom abzuschwächen, kommen aber an die eigentliche Wurzel der Erkrankung nicht heran.)
3. DIE EXISTENTIELLE ANGST: Mit der Aufklärung begann eine Tendenz, die bis heute nicht zum Stillstand gekommen ist: der „vernünftige Mensch" wollte sich an die Stelle Gottes setzen. „Eritis sicut Deus" lautete die Devise, die den Menschen als stark, mächtig, unabhängig, als den Herrn der Welt darstellte: „Will kein Gott auf Erden sein, sind wir selber Götter."
Der Mensch wurde dabei als Maß aller Dinge ausgerufen, alles wurde „machbar", keine Grenze schien mehr für ihn zu existieren. Fortschritte der Wissenschaft sollten ewiges Glücklichsein bedeuten; ungehört blieben die Warnungen Galileis (der Mensch ist nicht Mittelpunkt der Welt), Darwins (die Nähe des Menschen zum Tierreich) und Freuds (der Mensch ist nicht Herr seines Unbewußten).
Diese Weltanschauung war nur aufrechtzuerhalten durch die gewaltsame Verdrängung der eigenen Schwäche, auch durch Verdrängung Gottes ins Unbewußte. Nun wird aber der Mensch gerade in unserer Zeit in dramatischer Form an die Unhaltbarkeit dieser Verdrängung gemahnt:
Die Technik kann aus einem Hilfsmittel menschlichen Fortschritts zum Zerstörer der gesamten Menschheit werden. Die Zivilisation mündet in ihrer Übertreibung in eine Unlust an der Kultur. Die Medizin hat Krankheit und Tod nicht besiegt, sondern nur gemildert und hinausgeschoben. Das Omnipotenz-gefühl ist nicht aufrechtzuerhalten, die Menschen erahnen, daß sie mit der Verdrängung ihrer Schwäche sich um eine wesentliche Dimension ihres Seins und Ringens gebracht haben und daß sie dabei sind, um es mit Friedrich Heer zu sagen, „lineare Existenzen" zu werden.
Das Wiederauftauchen dieser verdrängten Schwäche muß mit all ihrer Peinlichkeit zu schrecklicher Angst führen.
Aus dieser Angst vor der Konfrontation mit der wahrhaftigen Schwäche, die aus den Tiefen des Unbewußten wieder auftaucht, rekrutiert sich die (heute ebenfalls zunehmende) existentielle Angst vieler Menschen, besonders mit fortschreitendem Alter, sie könnte man mit dem Frankl'schen Begriff der „noogenen Neurose" identifizieren, der aber nichts mit der in Punkt 2 beschriebenen kindlichen Neurose zu tun hat.
So wie die Kindheitsneurose eine Domäne des Psychotherapeuten bleibt, so wird die existentielle Angst nicht zu reduzieren sein ohne das ehrliche Einbekenntnis der menschlichen Schwäche
(„Schwachheit, dein Name ist Mensch") und die Rückführung Gottes aus dem Unbewußten ins Bewußte: Hier liegt die seelsorgliche Dimension dieses Problems.
Daraus ergibt sich bei näherer Betrachtung viel Grund zur Freude: Der neurotischen Angst sind wir nicht wehrlos ausgeliefert, es gibt die Chance der Therapie und der Vorbeugung durch eine bessere Erziehung.
Die Schrecken des Daseins sind zum Teil durch menschliche Solidarität besieg- oder reduzierbar. Und gerade das Ausgeliefertsein der menschlichen Existenz kann zur Grundlage der Beglückung werden. Wir müssen es nur annehmen und auf den vertrauen, der uns in der Weihnacht die Freude seiner Geburt und die Grundlagen unserer Erlösung beschert hat.
Univ.-Prof. Dr. Erwin Ringel ist Ordinarius für medizinische Psychologie in Wien.