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Schrei ins Gewissen der Menschheit

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Verhallen die Appelle des Papstes zur Entwicklungs- Zusammenarbeit unge- hört? Der Sozialethiker Schasching ist diesbezüglich - so zur FURCHE - „eher besorgt“.

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Verhallen die Appelle des Papstes zur Entwicklungs- Zusammenarbeit unge- hört? Der Sozialethiker Schasching ist diesbezüglich - so zur FURCHE - „eher besorgt“.

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Eine „furchtbare Herausforderung des letzten Jahrzehnts des zweiten Jahrtausends“ hat Papst Johannes Paul II. die Verantwortung für die Entwicklung der Völker genannt. Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ (Die soziale Sorge der Kirche) -

am 20. Februar 1988 — muß gemahnt werden, das Anliegen der Dritten Welt nicht zu vergessen.

Wer die Weltpresse nach der Veröffentlichung der Enzyklika verfolgt hat, ist auf den ersten Blick von der Fülle der Berichte beeindruckt. Zwischen 20. Februar und 9. April 1988 erschienen zum Beispiel in der italienischen Tagespresse 147 Artikel über das neue Rundschreiben. Aber ebenso rasch reagierten „New York Times“, „Herald Tribüne“, „Le

Monde“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der Vatikan verfügt über drei dicke Bände mit Ausschnitten aus der Weltpresse über „Sollicitudo rei socialis“.

Dieses weltweite Presseecho darf keineswegs unterschätzt werden. Die Stimme der Kirche zu Weltproblemen findet heute durchaus Gehör. Das war nicht immer so. Heute ist man in weiten Kreisen der Wirtschaft und Politik davon überzeugt, daß die Lösung der großen Zeitfragen nicht nur sachliche Kompetenz, sondern auch ethische Orientierung braucht. Diese Überzeugung wurde im vergangenen Jahr in zwei Ereignissen sichtbar: Am 13. September 1988 fand am Sitz der Vereinten Nationen in New York ein eigenes Seminar über die Sozialenzyklika statt, und am 5. Oktober des gleichen Jahres befaßte sich die UNESCO in Paris mit „Sollicitudo rei socialis“.

Ein Jahr nach der Veröffentlichung der Enzyklika lassen sich zwei Gruppen von Reaktionen feststellen. Die erste könnte man als die Stimme der Begeisterung bezeichnen. Sie kommt vor allem aus den Entwicklungsländern, insbesondere aus Lateinamerika. Man formuliert die Begeisterung so: In dieser Enzyklika redet die Kirche zum ersten Mal die Sprache der Dritten Welt.

Sie spricht von Neokolonialismus und Ausbeutung, von „Strukturen der Sünde“, von der Notwendigkeit der Bekehrung und Befreiung und von der Hoffnung auf eine neue Solidarität.

Und vor allem: Man tut das nicht in einer abstrakten philosophischen Sprache, sondern anhand der Bibel.

Der Widerspruch formuliert sich ebenso eindeutig. Um es verkürzt zu sagen: Die profane Welt kann mit theologischen Analysen und moralischen Imperativen wenig anfangen. Darum stürzt man sich umso intensiver auf die wirtschaftlichen und politischen Aussagen des Rundschreibens.

Hier werden ungenaue Analysen angekreidet, Unkenntnis von Tatsachen festgestellt und angebliche Fehlurteile zurückgewiesen. Und vor allem: Man bezichtigt auch diese Enzyklika der gleichen Utopie, die die gesamte Soziallehre der Kirche nach dieser Meinung kennzeichnet: Die Überzeugung nämlich, daß ein Gesinnungswandel imstande sei, die bestehenden wirtschaftlichen und politischen Strukturen und Mechanismen durch neue, gerechtere zu ersetzen.

Dies wird schlechthin negiert. Damit wird indirekt festgestellt, daß es in der Entwicklung der Völker auch in Zukunft keine wesentlich anderen Mittel und Wege geben kann als die bisher praktizierten.

Die Gefahr liegt auf der Hand: Die Kirche hat ihre Pflicht getan, indem sie im Anblick des Dramas der Dritten Welt mit einem Schrei in das Gewissen die Menschheit aufzurütteln versuchte. Die profane Welt hat diesen Schrei journalistisch zur Kenntnis genommen, aber gleichzeitig auch deutlich zu erkennen gegeben, daß sie mit bloß moralischen Appellen wenig anzufangen weiß und daß man daher am besten wieder zur Tagesordnung übergeht.

Was wir in näohster Zeit dringend brauchen, ist ein intensiver

Dialog zwischen dem Gedankengut der Sozialenzyklika und den wirtschaftlichen und politischen Instanzen und Organisationen zu folgenden Themen:

• Wenn gesagt wird, daß die Sprache der Sozialenzyklika „Sollicitudo rei socialis“ zu „kirchlich-religiös“ und zuwenig sachbezogen und daher für viele nicht verstehbar ist, dann soll diese Kritik nicht einfach empört zurückgewiesen werden.

„Sollicitudo rei socialis“ ist nun einmal nicht als fromme Lektüre gedacht, sondern als Impuls. Die Umsetzung gewisser Teile der Enzyklika in die Sachsprache der heutigen Sozialwissenschaften steht zu einem guten Teil noch aus und kann nur in offener Zusammenarbeit geleistet werden.

• Verfügt die Katholische Soziallehre über eine hinreichende Kenntnis der inneren Problematik der Entwicklungsländer und der damit gegebenen Widerstände gegen eine raschere Entwicklung? Müssen hier vielleicht differenziertere Aussagen gemacht werden, um der komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden?

• Ist mit der Feststellung der Enzyklika, daß in den wirtschaftlichen und politischen Systemen der Industrieländer „Strukturen der Sünde“ bestehen, gesagt, daß diese Systeme in sich schlecht sind, oder handelt es sich hier primär um ihr konkretes Verhalten den Entwicklungsländern gegenüber?

• Wenn die Enzyklika feststellt, daß beide Systeme, jenes des Ostens und jenes des Westens, „unvollkommen sind und als solche eine tiefgreifende Korrektur erfordern“, ist damit bereits eine moralische „Äquidistanz“ behauptet, sodaß beide Systeme von der Kirche auf die gleiche moralische beziehungsweise amoralische Ebene gestellt werden?

• Heute wird auch von Vertretern der Industrieländer offen zugegeben, daß die bisherigen Mittel und Methoden zur Entwicklung der Völker nicht ausreichen, um die drohende Krise zu vermeiden. Warum sollte es nicht möglich sein, ein „Großprojekt“ zu konzipieren, das aus den bisherigen Vorstellungen ausbricht, so wie dies auf anderen Gebieten in diesem Jahrhundert mehrmals geschehen ist?

• Die Enzyklika stellt ausdrücklich fest, daß die „Entscheidungen, die die Entwicklung der Völker vorantreiben oder hemmen“, wesentlich politischer Art sind. Sie ist also keineswegs der Meinung, daß dazu bloße moralische Appelle genügen. Um aber die entsprechenden politischen Entscheidungen zu treffen, braucht es einen Bewußtseinswandel der Menschen und einen politischen Konsens, zu dem die Kirche aufruft. Ist das völlig utopisch, und was wäre die Alternative?

• Wer die Kritik der Industrieländer an den Entwicklungsländern aufmerksam liest und die Vorschläge überprüft, die zur Überwindung der Unterentwicklung gegeben werden, hat den Eindruck, als ob die Industrieländer der festen Überzeugung wären, daß die Entwicklung der Völker nur dadurch geschehen kann, daß sie die wirtschaftlichen, politischen und zivilisatorischen Gegebenheiten der Industrieländer übernehmen. Die Sozialenzyklika teilt diese Auffassung nicht. Hat sie damit völlig unrecht?

Wie bereits gesagt, wurden diese Themen aufgrund eines eingehenden Studiums der Weltpresse zusammengestellt. Sie können selbstverständlich ergänzt und durch andere ersetzt werden. Worauf es aber entscheidend ankommt ist, daß der Dialog zwischen der Soziallehre der Kirche und den gesellschaftspolitischen Institutionen aufgegriffen beziehungsweise weitergeführt wird.

Sollte die folgende Sorge unbegründet sein, kann sie ruhig vergessen werden. Aber sie soll ausgesprochen sein. Die Sorge nämlich, ob die Kirche selber — und das sind wir alle — den Schrei in das Gewissen genug ernst nimmt oder ob sie es bei einigen „Pflichtübungen“ bewenden läßt: einige Artikel in der katholischen Presse, einige Vorträge und vielleicht sogar eine Sonderkollekte.

„Sollicitudo rei socialis“ geht es um viel mehr. Konkret um zwei Dinge: Erstens, „in diesem Einsatz müssen die Söhne und Töchter der Kirche Beispiel und Leitbild sein“. Die Enzyklika beschreibt diesen Einsatz noch genauer: Er betrifft den „persönlichen und familiären Lebensstil“, er betrifft die Bewußtseinsbildung der Menschen, mit denen man zusammenlebt, und er betrifft den massiven Einsatz für die entsprechenden wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen.

Und das Zweite: „Sollicitudo rei socialis“ ist davon überzeugt, daß eine tiefgreifende Veränderung der bisherigen Entwicklungspolitik eine solche Bewußtseinsveränderung verlangt, daß sie von den Katholiken allein nicht geleistet werden kann. Sie ruft daher zu einer neuen Ökumene der christlichen Religionen und „aller Anhänger der großen Weltreligionen“ auf und ebenso zu einer neuen Solidarität „aller Menschen guten Willens“. Bleiben diese Appelle schöne Worte, oder haben sie bereits zu konkreten Initiativen geführt?

Sicher, ein Jahr ist keine lange Zeit. Die Entwicklung der Völker wird mehr Zeit beanspruchen, als man in den optimistischen sechziger Jahren gedacht hat. Aber diese Zeit kann durch mutige Initiativen wesentlich verkürzt und durch Zaudern und Passivität wesentlich verlängert werden.

Der Autor ist Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom.

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