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Schreiben lernt, wer schreibt

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Sprache und Schrift sind seit jeher Parameter für Kultur und Bildung. Deshalb ist auch ein erheblicher Teil pädagogischen Bemühens in der Schule dem Erlernen dieser Kulturtechniken gewidmet.

Unüberhörbar ist in den letzten Jahren Kritik an der Schule dahingehend geübt worden, ob unsere Kinder die Grundfertigkeiten des Sprechens, Schreibens und Lesens in der Volksschule noch ausreichend vermittelt erhalten. Die Diskussion um die sogenannten Arbeitsbücher ist dabei bestenfalls als Methodenstreit zu werten und geht den Problemen sicher nicht auf den Grund. Die Tatsache, daß Kinder bereits sprechend in die Volksschule eintreten, macht deutlich, daß durch das Elternhaus starke Determinationen- in Form von Sozialisa-tionsprozessen — vorhanden sind.

Soziolinguistische Untersuchungen konnten bereits seit Jahren nachweisen, daß Sprache als schichtenspezifischer Sozialisati-onsfaktor in Erscheinung tritt. Basil Bernstein etwa fand deutliche Unterschiede zwischen den Sprachformen der Mittel- und Unterschichtkinder. Während die in der Mittel- und Oberschicht vorherrschende „formale Sprache“ (elaborierter Sprachcode) die Regeln grammatischer Ordnung und Syntax befolgt, logische Modifikation und Akzente durch komplexe Satzkonstruktionen ausdrückt, bedient sich die Unterschicht der „öffentlichen Spra-dne“ (restringierter Sprachcode), die genau gegenteilige Merkmale aufweist: Ein beschränktes Vokabular, kurze grammatisch einfache und oft unvollständige Sätze, der starre Gebrauch einer begrenzten Zahl von Adjektiven oder Adverbien sowie der geringe Gebrauch unpersönlicher Pronomina als Satzsubjekt.

Die „öffentliche Sprache“ ist in starkem Maß vorstrukturiert und wird daher schnell und flüssig gesprochen. Es konnte auch nachgewiesen werden, daß die Sprachentwicklung deutlich milieuabhängig und die Fähigkeit von Unterschichtkindern zur Lautdiskriminierung erheblich geringer ist. Ihr Wortschatz besitzt einen kleineren Umfang, ein großer Anteil der von ihnen benutzten Wörter gehört nicht zum Repertoire der Mittelschicht und damit auch nicht zu dem der Schulbücher und des Unterrichts.

In Kenntnis dieser Phänomene hat die Schule zweifellos kompensatorische Aufgaben. Daß der hohe Gastarbeiterkinder-Anteil in vielen Schulklassen und die damit verbundenen Sprachschwierigkeiten dieses Unterfangen nicht gerade erleichtern, liegt auf der Hand.

Wir stellen aber heute ganz allgemein eine zunehmende Sprach-und Kommunikationsverarmung fest. Immer weniger Menschen sind in der Lage, Motive und Emotionen sprachlich zu fassen, Konflikte zu verbalisieren oder Streitgespräche friedlich auszutragen, sie flüchten häufig in Aggression, Kompensation oder Resignation. Ein Befund, der zweifellos auch zum Vorwurf gegen Schule, als Ort des Erlernens von Sprache und Ausdrucksfähigkeit, wird.

Fast jedes Kind erlernt letztlich sprechen, auch wenn es nicht besonders dazu erzogen wird. Warum aber haben so viele Kinder und Erwachsene Probleme mit dem Schreiben?

Schreiben lernt man unter anderen Umständen als Sprechen. Sprechen lernt das Kind zu Hause nebenbei, ohne große erzieherische Absicht der Eltern, mit hoher Vorbildwirkung, jedoch ohne besondere Anstrengung des Kindes.

Schreibenlernen dagegen ist kein Teil der automatischen Entwicklung des Kindes. Es muß planvoll und meist unter Anstrengung gelernt werden. Man schreibt eben nicht so wie man spricht. Sprachformen, Laut- und Buchstabengestalt, die richtige Zuordnung und eine an sich unlogische Grammatik bedingen unzählige Fehlerquellen.

Viele Menschen schreiben daher unsicher und mit Fehlern. Kein Wunder, daß Lehrherren, die Wirtschaft und die Universitäten immer häufiger darüber klagen, daß die Absolventen der Schulen unsere grundlegenden Kulturtechniken nicht beherrschen. Da mag man durchaus in Rechnung stellen, daß wir in einem Comic-Zeitalter leben, daß elektronische Medien die Kommunikation untereinander ersetzen und die Lesebereitschaft der Jugendlichen beängstigend abgenommen hat.

Deutlicher als bisher werden wir aber die Frage stellen müssen, ob unsere Schule Ausreichendes leistet. Die Einführung von Arbeitsbüchern in der Volksschule hat zweifellos effizienteres Arbeiten und lernökonomische Verbesserungengebracht. Das Einfügen von Wörtern in Lückentexte ersetzt aber noch nicht das Schreiben ganzer Sätze.

So banal es auch klingen mag, daß Schreiben nur durch Schreiben und Sprechen nur durch Sprechen erlernbar ist, so bedeutungsvoll wird dies als bildungspolitische Forderung. Was darf man aber von Kindern erwarten, wenn selbst Lehramtskandidaten der Sprache oft nicht mächtig sind oder selbst die Rechtschreibung nicht fehlerlos beherrschen?

So haben etwa erschütternde Ergebnisse bei der Uberprüfung dieser Fähigkeit Pädagogische Akademien veranlaßt, seit geraumer Zeit Rechtschreibkurse anzubieten, die von den Studenten auch dankbar angenommen werden. Die Defizite schulischer Ausbildung hegen jedenfalls deutlich vor.

Die Personalstellen größerer Betriebe berichten, daß viele Jugendliche, Maturanten, ja sogar gelegentlich Akademiker Bewerbungsschreiben mit groben Rechtschreibfehlern abgeben oder nicht in der Lage sind, persönliche Wünsche, Interessen und Vorstellungen zu artikulieren. Oder auf die Frage, welches Buch sie zuletzt gelesen hätten, in peinliches Schweigen flüchten.

Wenn die Beherrschung der Sprache, der allgemeinen Artikulationsfähigkeit und der Schrift unter anderem als konstitutive Merkmale der Gesamtpersönlichkeit gelten, dann kommt der Schule neben dem Elternhaus entscheidende Bedeutung zu.

Vielleicht haben wir tatsächlich in den letzten Jahren dem Erlernen dieser Fähigkeiten nicht die notwendige Bedeutung beigemessen, sind vordergründigen Modernismen aufgesessen, oder haben auch den prägenden Einfluß außerschulischer Faktoren unterschätzt: etwa die Sprachformen der Zeitungen, das „Journalisten-Deutsch“, das anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegt; die tägliche Berieselung mit Werbesprache via Plakat oder TV, oder aber auch die sprachlich und grammatikalisch falschen Aussagen führender Politiker und Repräsentanten des öffentlichen Lebens, die glauben machen, daß man sich solche Fehler leisten kann. Wenn wir die „formale Sprache“ und die Schrift, das miteinander Kommunizieren also, als einen wesentlichen Bestandteil unserer Kultur ansehen - und das tun wir, mit Ausnahme kleiner, ideologisch fixierter Gruppen -, dann muß unsere Schule neue Prioritäten und Initiativen setzen.

Wir werden unsere Lehrpläne, Methoden und Bildungsangebote analysieren, Defizite deutlich beim Namen nennen und konkret etwas verändern müssen. Wir werden die Entwicklung eines ausgeprägten Rechtschreibgewissens, die Sprachhandlungs-kompetenz des Schülers fördern, wieder die Sprache zur Sprache bringen müssen. Das sind lohnende Ziele bildungspolitischer Bemühungen. Vor allem hat die Lehrer-Aus- und -Fortbildung viel nachzuholen. Ohne Romantisierung darf angemerkt werden, daß der hohe Stellenwert der „artes liberales“ in der Antike, beispielsweise der Rhetorik und der Dialektik, nicht von ungefähr kam. Um wieviel mehr bieten sich heute in der hochentwickelten Sozial-und Kommunikationsforschung entsprechende Anhaltspunkte. Der schleichenden Entwicklung zu einer neuen Form des Analphabetismus Einhalt zu gebieten, ist es hoch an der Zeit.

Der Autor ist Vizepräsident des Wiener Stadtschulrates.

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