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Schrittmacher für direkte Demokratie

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Niederösterreich, einst Vorposten der „westlichen Welt" im Osten - zumindest im Reich Karl des Großen und später wieder in der Besatzungszeit -steht zu unrecht im Ruf, am meisten von den alten Feudalstrukturen in die Demokratie „herübergerettet" zu haben. Seit 1. Jänner 1979 hat es die modernste Landesverfassung. Und wenn mit 1. Juli 1981 ihre Ausführungsgesetze in Kraft treten, können sich die Niederösterreicher die „Schweizer Österreichs" nennen. Das „Kuenrin-gerland" ist dann nämlich Schrittmacher in Sachen demokratischer Mitbestimmung auf Landesebene.

Mit der neuen Landesverfassung hat die heuer zu Ende gehende Ära - repräsentiert von Andreas Maurer und Hans Czettel - wichtige Weichen für die „innenpolitische" Zukunft Niederösterreichs gestellt. Überdies ist dieses Gesetzeswerk der Beweis, daß im Land unter der Enns politische Fronten nicht so verhärtet sind, wie man sich westlich der Enns gern erzählt. In zehn Jahren wurde die neue Verfassung von ÖVP und SPÖ - nur sie sind im blaugelben Landtag vertreten - gemeinsam erarbeitet.

1969 hatte der Landtag die Landesregierung aufgefordert, die aus den zwanziger Jahren stammende alte Landesverfassung an die Bedingungen einer neuen Zelt anzupassen. Noch ganz dem Obrigkeitsdenken verhaftet, trug sie vor allem dem weiterentwickelten Demokratiebewußtsein nicht mehr Rechnung.

Doch die Reformarbeit kam erst in Schwung, als das Jahr 1972 in Niederösterreich zum „Jahr der Verfassung" ausgerufen wurde. Gegen Jahresende legte die SP-Fraktion eine erste „Gesprächsgrundlage" vor, etwa zwei Monate danach folgte ein „unverbindlicher" Entwurf der ÖVP.

Ab November 1974 tagte dann regelmäßig ein „Politisches Unterhändlerkomitee". Federführend waren dabei die beiden Klubjuristen, Hofrat Dr. Ernst Brosig für die ÖVP und Hofrat Viktor Seidl für die SPÖ. Beide gelten als die geistigen Väter der neuen Landesverfassung Niederösterreichs.

Der endgültige Entwurf wurde dann am 29. Juni 1978 als Initiativantrag beider Parteien im Landtag eingebracht, am 28. September vom Verfassungsausschuß und am 5. Oktober 1978 einstimmig vom Landtag beschlossen.

Seit 1. Jänner 1979 sind nun Österreicher, die in Niederösterreich ihren Hauptwohnsitz haben und hier bei Landtagswahlen wahlberechtigt sind, blau-gelbe „Landesbürger". Dieser Titel in der Landesverfassung wurde von Andreas Maurer erkämpft. Er soll auch im ehemaligen Kernland, dessen Bewohner bislang eher als innerösterreichische Kosmopoliten fühlten, ein eigenes Landesbewußtsein fördern.

Wesentlich bedeutender aber sind die in der Landesverfassung neuen Grundrechte, die den blau-gelben Landesbürgern einige Instrumente direkter Demokratie in die Hand geben, die es in anderen Bundesländern überhaupt nicht oder nicht in dieser großzügigen Form gibt.

Natürlich bleibt auch Niederösterreich der repräsentativen Demokratie treu. An die Regierung und an die gewählten politischen Mandatare wird also die letzte Verantwortung delegiert. Niederösterreichs Landesbürger können aber künftig ihren Gesetzgebern (dem Landtag) und denen, die die Gesetze vollziehen und das Land verwalten (der Regierung) auch zwischen den Wahlzeiten ihr Mißbehagen ausdrük-ken, ja sogar Änderungen und neue Gesetze vorschlagen. Und auf Dauer wird es sich keine Regierung und kein gewählter Mandatar leisten können, den Willen derer, die delegieren, zu übergehen.

In einer Demokratie entscheiden Mehrheiten. Auch in Niederösterreich können künftig nur qualifizierte Mehrheiten mitbestimmen. Die „Latte" ist aber so gelegt, daß auch für organisierte Minderheiten - die sonst überall an die Wand gespielt werden - eine Chance besteht.

• Neu ist das im Artikel 25 verankerte erweiterte Begutachtungsrecht. Es verpflichtet die Landesregierung, Gesetzesvorlagen Interessensvertretungen vorzulegen. Eine Neuheit in Österreich ist dabei der neunköpfige „Beirat für Jugend und Familienpolitik sowie zur Wahrung der Interessen der älteren Generation". Er muß gehört werden, hat das Recht zu beeinspruchen und zu beraten.

• Völliges Neuland wurde mit dem Initiativ- und Einspruchsrecht (Artikel 26 und 27) betreten. Danach können künftig fünf Prozent der Landtagswahlberechtigten (rund 50.000 Niederösterreicher) die Änderung eines Gesetzes, seine Aufhebung oder ein neues Gesetz beantragen. Zur Einleitung des Verfahrens genügen 5000 Unterstützungserklärungen. Auch 15 Prozent der Gemeinden (genau 84) haben dieses Recht.

• Ein Landtagsbeschluß wird erst rechtskräftig, wenn er nicht innerhalb von sechs Wochen angefochten und einer Volksabstimmung unterzogen werden muß. Anfechten können 5 Prozent der Landesbürger, 15 Prozent der Gemeinden oder die Mehrheit der Mandatare. Im Bund - zum Vergleich - kann nur die Nationalratsmehrheit eine Volksabstimmung fordern.

• Erstmals in Österreich sind auch lokale Bürgerinitiativen verfassungsmäßig garantiert. 10 Prozent wahlberechtigter Landesbürger einer Gemeinde oder einer Region können bei der Landesregierung durch Volksbegehren initiativ werden. Es muß dabei kein Gesetzesentwurf vorgelegt werden, es genügt eine Anregung.

Vermutlich wird gerade dieses Instrument, weil hautnah (Straßenbau, Kraftwerke, Umweltschutz!), am öftesten gebraucht werden. Für die anderen ist noch ein Lernprozeß nötig. Im Interesse der Demokratie wäre zu wünschen: Hoffentlich ist man dafür nicht zu bequem.

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