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Schuften für die Perestrojka

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Die russischen Frauen erhalten zum Muttertag keine Veilchen. Nach fünf Jahren Perestrojka hat Ninotschka keinen Grund zum Jubeln. Die Zeitungen sind zwar, dank Glasnost, sehr interessant geworden. Doch - welche Hausfrau hat Zeit zum Lesen? Laut Statistik stehen die Sowjetbürger 75 Mil-

liarden Stunden pro Jahr vor den Geschäften Schlange. Das ent- spricht der jährlichen Arbeitszeit von 35 Millionen Beschäftigten. Und wer steht Schlange? Meistens die Frauen.

Nina, Lehrerin in Moskau, kann das Wort „Perestrojka" schon nicht mehr hören: „An diese Perestrojka glaube ich nur, wenn Gemüse in die Läden kommt, das Auto repariert wird und meine Tochter endlich ordentliche Zahnpasta bekommt."

Valentina Grolitsch, Dozentin für Volkswirtschaft, fällt zu den Feier- lichkeiten auch nichts Tröstliches ein. Sie konstatiert eine „immer stärker werdende Ausbeutung der Frau".

Und so sieht man überall im Arbeiterparadies zum Beispiel Frauen mit Spitzhacke und Brech- stangeii als Schienenmonteure schuften. Es fehlt an modernen Gleismaschinen. Auch wenn der Verdienst mit 200 Rubel gut ist, was ist das im Vergleich zu schmer- zenden Bandscheiben? Laut offi- zieller Statistik, die noch immer geschönt ist, arbeiten 65.000 Frau- en im Straßen- und Schienenbau, 270.000 verrichten schwere körper- liche Arbeiten in Fabriken, vier Millionen machen Nachtschichten und den Großteil der Verladetätig- keit im Handel besorgen ebenfalls Frauen. Eine berufstätige Mutter - und die meisten Frauen müssen arbeiten - verwendet täglich eine Viertelstunde für die Kindererzie- hung (das Wochenende miteinge- rechnet).

Irina, Vera und Katja sitzen er- schöpft am Boden. Die an sich hübschen Mädchen haben schwar- ze Ringe unter den Augen. Sie ar- beiten in einer Baubrigade. Das Ge- wand ist steif von Mörtel, die schwe- ren Stiefel haben sie ausgezogen. In ihren Augen spiegelt sich Resigna- tion, nicht einmal der Fotoapparat kann ein Lächeln erzwingen. Schlechtbezahlte, harte Arbeit müssen sie leisten - und dazu noch Kinder großziehen.

Vera hat es noch gut: Sie hat eine Verkäuferin als Freundin. Wenn fri- sche oder seltene Ware ins Geschäft kommt, gibt ihr diese einen Wink. Irina, Mutter einer kleinen Toch- ter, erhielt bis zwei Monate nach der Geburt ihr normales Gehalt plus 20 Rubel für das Kind. Die restli- chen Monate erhielt sie 35 Rubel. 70 Rubel sind das absolute Exi- stenzminimum. Die Firmenleitung hatte sie gekündigt, weil die ver- ordnete Selbstfinanzierung der Betriebe keinen Raum für Wohl- fahrt läßt. Irinas Verlobter hatte sich aus dem Staub gemacht, als er erfuhr, daß Nachwuchs kommt. Schweren Herzens hat sie sich ent- schlossen, das Kind in das Heim zu geben. Sie teilt unionsweit mit 550.000 anderen ledigen Müttern diese Sackgassenerfahrung.

Kinderreiche Familien kommen

ebenfalls leicht an den Bettelstab. Sergej und Swetlana Plotnikow haben fünf Kinder. Der Staat gibt ihnen einen Zuschuß von zwölf Rubel pro Kind. Zum Frühstück gibt es Mak- karoni, zum Mittages- sen Kartoffel mit Zwie- beln, Schwarzbrot, Butter und Tee zum Abendessen. Auf dem Bauernmarkt geht Frau Plotnikow nie: „Die billigsten Eier sind immer noch zu teuer für uns." An Feiertagen brin- gen Bekannte Pfannkuchen und Sauerrahm - ein Festessen für die Kinder.

Das Moskauer Zentralamt für Statistik hat errechnet, daß ein Kind das Haushaltseinkommen um 24 Prozent, vier Kinder um 77 Prozent senken. Da der Staatshaushalt al- lein im Vorjahr ein Defizit von 92 Milliarden Rubel „erwirtschaftete", ist von amtlicher Seite keine Un- terstützung zu erwarten. Deshalb wurde in Moskau kürzlich der „Verband der Kinderreichen" ins Leben gerufen. „Unser Ziel ist", sagt der Vereinsvorsitzende Geor- gij Poloskin, Hydrometeorologe und Vater von acht Kindern, „daß der Verband produktive Betriebe grün- det und leitet, in denen Angehörige aus kinderreichen Familien arbei- ten und besser verdienen können."

Ist das Los der russischen Arbei- terin hart, so ist das ihrer Ge- schlechtsgenossinnen im islami- schen Zentralasien trostlos. Die pa- triarchalischen Strukturen eines besonders rigiden Islam verknüpft mit den Arbeitsmechanismen des Kolchossystems, verstärkt durch die Probleme der Baumwoll-Monokul- tur, wirken wie ein Schraubstock.

Unter dem Titel „Lebende Fak- keln flammen hinter ruhigen Stein- wällen auf" berichtete die „Praw- da" über die alarmierende Zahl an Selbstverbrennungen. Spektakulä- re Selbstmorde als Notsignale. Vom Plakat lächelt ein hübsches Mäd- chen in usbekischer Tracht, Baum- wolle in den Händen haltend. „Goldene Hände schaffen das wei- ße Gold" dichtet die Propaganda.

In Wahrheit müssen in Usbeki- stan, Turkmenistan und Tadschi- kistan schon die kleinen Mädchen, statt die Schulbank zu drücken, auf den Baumwollfeldern arbeiten. Die Arbeit ist nicht nur schwer, son- dern auch gesundheitsschädigend. Pro Hektar werden 54 Kilogramm

Pestizide verstreut. Die Frauen- und Kindersterblichkeit ist enorm hoch. Die Männer sitzen in den Büros und widmen sich administrativen Tä-

tigkeiten. Die hohe Geburtenzahl zehrt die Frauen zusätzlich aus. Kinder gelten nicht nur als billige Arbeitskräfte. Ein usbekischer Schriftsteller weiß, daß „für viele Frauen die Entbindung das einzige Mittel ist, um wenigstens zeitweise von der Baumwolle wegzukom- men."

Diese Existenz treibt die Frauen in den Tod. Eine schwerverletzte Selbstverbrennerin aus Samarkand berichtet: „Wir waren den ganzen Tag auf dem Feld. Abends fing es zu regnen an, wir kamen müde nach Hause. Ich stellte meinem Mann ein ungewärmtes Essen hin, da ich keine Kraft mehr hatte, Feuer anzuzün- den. Er schmiß das Essen auf den Hof. Ich reichte ihm Tee - er schüt- tete ihn mir fast ins Gesicht. Ich fragte ihn etwas - er gab mir einen Tritt. Dann ging ich in den Hof, übergoß mich mit Diesel und zün- dete mich an." Allein in Usbekistan lodert so jeden Tag eine „lebende Fackel".

Gorbatschow weiß, warum er seine Frau Raissa ins Rampenlicht rückt:

Die Perestrojka hängt am weibli- chen Geduldsfaden. Die Februar- revolution 1917, die Zar Nikolaus II. zum Abdanken zwang, wurde von Petersburger Hausfrauen pro- voziert. Die Mütter, von Hunger getrieben, zogen mit Transparenten - „Gebt uns Brot!" - vor das Win- terpalais. Soldaten und Arbeiter schlössen sich ihnen an.

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