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Schuld und Erlösung

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Für jeden Menschen ist die Erfahrung von Schuld eine wichtige Lebenswirklichkeit. In spezifischer Weise betrifft sie den Christen. Über den Stellenwert und die Bereiche der Entstehung von Schuld werden in diesem Beitrag Überlegungen aus pastoraltheologischer Sicht angestellt.

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Für jeden Menschen ist die Erfahrung von Schuld eine wichtige Lebenswirklichkeit. In spezifischer Weise betrifft sie den Christen. Über den Stellenwert und die Bereiche der Entstehung von Schuld werden in diesem Beitrag Überlegungen aus pastoraltheologischer Sicht angestellt.

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Der erste Aspekt ist die Hoffnung des Menschen, einen Namen zu haben. Ich brauche jemanden, der einen Namen für mich hat, d. h. für den ich wichtig bin, nicht nur in einer zufälligen Hinsicht, sondern als individuelle Person. Die Gegenprobe ist beängstigend: Es gibt niemanden, der meinen Namen kennt, für den ich ein Mensch mit Gesicht bin, ich wäre radikal anonym.

Der zweite Punkt bezieht sich auf die Suche nach einem Bereich des Erlebens von Macht und Freiheit. Ich fühle mich sicher, wenn ich Orte habe, an denen ich mich frei bewegen kann, an denen ich nicht ohnmächtig den Ubermächtigen, Personen oder Sachzwängen unterworfen bin. Dieses berechtigte Streben nach Macht und Freiheit zielt auf Mitverantwortung an der Gestaltung und Erfüllung des eigenen Beziehungsraümes, der die Umgebung der Lebensgeschichte bildet.

Das dritte Element könnte mit Heimat umschrieben werden. Es ist ein Urbedürfnis menschlichen Lebens, einen Standort zu haben, nicht in der Fremde leben zu müssen. Heimatlosigkeit hieße im umfassenden Sinn letzte Entfremdung des Menschen von sich.

Verstehen wir die Lebensgeschichte des Menschen als Realisieren der primären Lebenshoffnungen, so gibt es immer auch ein Verfehlen dieser Möglichkeiten. Wir können an den ursprünglichen Sinnmöglichkeiten unseres Lebens vorbeileben, sie behindern oder zerstören. Diese Lebensbehinderung enthält Schuld. Uberall, wo Beziehungen zwischen Menschen zerstört werden, wird Leben zerstört. Die Anthropologie definiert radikale Beziehungslosigkeit als Tod.

Wo also ein Mensch beginnt, in seiner Lebensgeschichte von seinen ursprünglichen Lebenshoffnungen abzukommen, dort können wir von Schuld sprechen. Das Leben ist eine Mischung von Fragmenten des Todes und Fragmenten des Lebens.

Warum aber ist mein konkretes Leben eine unentflechtbare Mischung von Heil und Unheil, von Leben und Tod, von Beziehung und Beziehungslosigkeit?

Zunächst kennen wir aus der Anthropologie und aus den Sozialwissenschaften eine ererbte Beziehungsbehinderung. Das Lebenswissen, das der Mensch braucht, um Mensch zu werden, stammt nicht (bloß) aus genetischer Vererbung, sondern ganz wesentlich aus der Übernahme bereits bestehender Lebensformen. Die erste, grundlegende Einübung in die Lebenstraditionen geschieht in der Familie.

Die Kinder lernen so zu leben, wie ihre Eltern leben. Ungefiltert und ungeschminkt übernehmen sie die

Lebensweisen, die ihnen vorgelebt werden. Ob ein Kind Urvertrauen, Liebesfähigkeit und emotionale Stabilität erlernt, hängt in hohem Maß von seinem Elternerlebnis ab.

Zu dieser Ererbung des Lebenswissens in der Familie kommen später die Lernvorgänge in den Lebensfeldern Schule, Arbeit, Freizeit, Konsum, Umwelt usw. dazu. Im Durchwandern dieser Strukturen lernt der Mensch, seine Identität aufzubauen.

Die Humanwissenschaften präsentieren uns nun die klare These: Wir lernen heute so voneinander und miteinander leben, daß wir nicht lernen zu leben, d. h. beziehungsfähig zu werden, sondern daß wir den Tod, die Beziehungslosigkeit in uns aufnehmen. Anstelle des Lebens im Sinn der ursprünglichen Hoffnungen wächst uns im Durchgang durch die verschiedenen Lebensfelder jeweils spezifische Lebenszerstörung zu.

Der Eintritt in die Gesellschaft ist zugleich der Eintritt in eine Tradition des Bösen, die zusammen mit einer Tradition des Guten die Menschheitsgeschichte prägt.

Neben dieser „von den Vätern ererbten sinnlosen Lebensweise" gibt es durchaus einen Anteil von persönlich mitverantworteter Schuld. Dieser engere und eigentliche Schuldbegriff beruht auf der Freiheit des Menschen, der nicht einfach nur Opfer der Tradition des Bösen ist Im Zug der Gewissensbildung erwächst vielmehr die Kompetenz zur Stellungnahme und Kritik an der ihm zugemuteten Identität.

In konkreten Entscheidungen stellt sich die Alternative, das ererbte Lebenswissen zu billigen oder abzulehnen, den humanen Lebensmöglichkeiten zu folgen, oder die tradierte Beziehungszerstörung weiterzuführen. Subjektiv verantwortete und gesellschaftlich verursachte Schuld ist es also, die den Menschen von seinen ursprünglichen Lebenshoffnungen abbringt und ihm den Namen, die Freiheit und die Heimat raubt

Man kann dies Hölle nennen, wenn die Menschen völlig beziehungslos nebeneinander leben, wie dies etwa Jean-Paul Sartre in „Bei verschlossenen Türen" beschrieben hat. Jenes schlechthin sinnvolle Leben hingegen, jener Zustand der gelebten Hoffnungen in Fülle, heißt biblisch das ewige Leben.

Die theologische Dimension des Schuldbegriffes, von der die Bibel spricht, ist bisher zurückgestellt worden, da sich schuldhafte Beziehungsbehinderungen anschaulich als zwischenmenschliche Kommunikationsstörungen darstellen lassen. Wie verhält sich aber zu dieser sozialen menschlichen Lebensfähigkeit die Glaubensfähigkeit?

Die österreichische Katholikenumfrage 1970 hat hier eine klare Relation hergp tellt: In dem Ausmaß, in dem der egoistische Individualismus eines Menschen wächst, in dem Ausmaß wächst auch sein Verlust an Transzendenz. Je weniger sich jemand auf andere Menschen einläßt, desto enger ist seine Welt, und desto geringer seine Bereitschaft, sich der Transzendenz zu öffnen.

Wenn die Welt des Menschen schrumpft, wenn er auf sich zurückgeworfen ist und vereinsamt, dann ist das Symptom für die tiefliegende Kommunikationsstörung mit Gott. Dieser Verlust einer Beziehung zu dem Letzten, der einem beim Namen rufen kann, ist Lebenszerstörung im umfassenden Sinn. Deshalb kann die „von Vätern ererbte sinnlose Lebensweise" durchaus theologisch als „Erbschuld" gefaßt werden.

Hier stellt sich nun die Kernfrage: Ist ein Vorgang denkbar, der diese meine zerstörerische, mit Schuld be-ladene Lebensgeschichte so beeinflussen kann, daß ich den Weg auf den Tod zu abbreche, um das ewige Leben zu gewinnen? Gibt es eine Erlösung, die mein Leben in Richtung auf meine ursprünglichen Lebenshoffnungen freisprengt? In der biblischen Sprache heißt dies Umkehr.

Umkehr bezeichnet den Vorgang, in dem der „alte Mensch" zum „neuen Menschen" wird: Die lebensgeschichtlich gewachsene, mit Schuld beladene, also behinderte Identität wird beiseite gestellt durch die Bereitschaft, ein Stück in die Richtung zurückzugehen, auf der sich die ursprünglichen Lebenshoffnungen finden.

Ich versuche, mich von meiner schuldhaften Vergangenheit zu lösen und mich der Zukunft zu stellen, für die mir Leben von Gott erschlossen ist. Meine Identität soll sich verändern, so daß ich ein „neuer Mensch" werden kann, der für eine Zukunft geöffnet ist, die hoffen und leben läßt.

Eine von diesem Verständnis von Umkehr getragene Vergebung einer Schuld, die der andere bekannt hat, kann dann nicht darin geschehen, daß man den anderen durch ein in der Lebensgeschichte angefülltes Museum von Verletzungen führt und ihn auf die vergangene Schuld festlegt.

Vergebung, wie sie uns von Gott zugesagt ist, wird erst wirklich, wo der andere für das Leben freigesprochen, von seiner Schuld entrümpelt wird in der Hoffnung auf eine neue, gemeinsame Zukunft.

(Auszug aus Actio Catholica 4179)

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