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Schulden und Hunger

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Seit 1982 steht Lateinamerika in der offenen Schuldenkrise. Heute gibt es noch immer keine Lösung. Das Schuldenvolumen stieg. Die Bevölkerung steckt in der Sackgasse.

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Seit 1982 steht Lateinamerika in der offenen Schuldenkrise. Heute gibt es noch immer keine Lösung. Das Schuldenvolumen stieg. Die Bevölkerung steckt in der Sackgasse.

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Nach den (eher konservativen) Kalkulationen der Cepal (UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika) hielt die Region 1982 bei 331 Milliarden Dollar. Heute reicht der Schuldenberg bis 380 Milliarden. Gibt es keine dramatischen Veränderungen, so ein Zukunftsszenario der Cepal, wird Lateinamerika im Jahr 2000 mit 600 Milliarden Dollar in der Kreide stehen.

Inzwischen weiß jeder, daß es so nicht weitergehen kann. Fünf Jahre „Schuldenmanagement" („manej ar la deuda" sagen die Lateinamerikaner dazu) haben die Anpassungsmöglichkeiten erschöpft. Wohl wurde die offene Konfrontation, das Moratorium, der Bankenkrach vermieden. Doch zu welchem Preis! Latein-

amerikas Bevölkerung mußte ihren Gürtel immer enger schnallen und steckt jetzt in der Sackgasse. Das Pro-Kopf-Einkommen des Subkontinents - auch das eine Cepal-Statistik - schrumpfte in der Zeit von 1981 bis 1986 um 7,6 Prozent.

Lateinamerikas erfolgreiches Modemisierungsbürgertum (das die klassische Oligarchie aufgezogen hat und auch die Militärs einschließt) verfügt über ein derartig üppiges Einkommen, daß solche Schrumpfungen höchstens ein Mercedes-Auto weniger bedeuten.

Lateinamerikas Arme auf dem Land oder in den tristen Vorstädten der Urbanen Agglomerationen haben gelernt, in ihrer .Äultur der Armut" zu leben: Großfamilien, Nachbarschaftsvereinigungen und Selbsthilfeorganisationen können dort viele Schicksalsschläge abfedern und sorgen dafür, daß selbst bei dünner Suppe oder „Panela" (heißes Wasser mit Syrup) immer ein Schuß Würde bleibt.

Fürchterlich trifft es die unteren Mittelschichten beziehungsweise das Kleinbürgertum (darunter viele Staatsangestellte). Diese Gruppen konnten sich im Rahmen der teilweise erfolgreichen Modernisierungen der sechziger und frühen siebziger Jahre einige Stufen auf der sozialen Erfolgsleiter hinaufarbeiten. Was bedeutete: Aus den selbstgebauten Hütten der Vororte in ein modernes Apartment übersiedeln, neue Konsumgewohnheiten annehmen, ein erstes Gebrauchtauto kaufen, die Kinder in eine (teure) Privatschule schicken.

Lateinamerikas schrumpfendes Pro-Kopf-Einkommen trifft vor allem die Angehörigen dieser Schichten, die, sind die kümmerlichen Reserven einmal aufgebraucht, nicht mehr in den Groß-familienverband der „Kultur der Armut" zurückkehren können, sondern tragisch scheitern müssen und zerrieben werden.

Wie soll es, da nunmehr alle Reserven verbraucht und die Ausweichmöglichkeiten ausgereizt sind, weitergehen? Immer stärker wird der Ruf nach der „politischen Lösung", also weg von der finanztechnischen Debatte, die Banken und Währungsfonds gou-tieren, hin zu den bi- oder auch multilateralen Gesprächen zwischen den Schuldner- und Gläubigerregierungen. Dabei kristallisieren sich diese lateinamerikanischen Forderungen heraus:

• Strecken der Rückzahlungszeit auf mehrere Dekaden, mit zumindest fünf anfänglichen Freijahren.

• Schluß mit den interventionistischen Auflagen des Internationalen Währungsfonds.

• Dramatisches Reduzieren der Zinsen.

• Bindung der Schuldenzahlungen an die „reale Zahlungskapazität" der Länder — was zehn Prozent von den eigenen Exporteinnahmen sein kann (peruanische Praxis) oder 2,5 Prozent vom Bruttosozialprodukt (ursprünglich ein brasilianischer Vorschlag).

• Massive neue Gelder, die von den Industriestaaten zur Verfügung zu stellen sind.

Diese „politische Lösung" reifte in den lateinamerikanischen Debatten der sogenannten „Cartage-na-Gruppe" in den letzten zwei Jahren heran. Da die Gläubigernationen jedoch keine Eile zeigen, darauf einzugehen, stieß Brasilien, zuletzt von ernsthaften internen Schwierigkeiten bedroht, alleine vor und versuchte, die „politische Lösung" mit Drohgesten herbeizuzwingen.

Um keinen falschen Eindruck aufkommen zu lassen: Immer noch will Brasilien zahlen - aber eben zu den Bedingungen der eigenen „politischen Lösungsvorschläge", und nicht nach den finanztechnischen Praktiken der internationalen Banken.

Der brasilianische Schritt ist umso wichtiger, als die führenden Schuldner auf dem lateinamerikanischen Subkontinent heute durchwegs ,ounge Demokratien" sind, die ihren Bürgern, sollen die nächsten Wahlen bestanden werden, nicht noch engere Gürtel und noch drakonischere Sparpolitiken abverlangen können.

„Nicht mit dem Hunger unseres Volkes die Schulden bezahlen!" Dieser Satz des brasilianischen Präsidenten Jose Sarney wird rasch zum Leitspruch des gesamten lateinamerikanischen Subkontinents.

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