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Schulstreß trotz Erziehungswissenschaften

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Psychologen und besorgte Eltern beobachten, daß die Schüler an der Schule leiden. Es wäre falsch, die Probleme um den „Schulstreß“ mit einem Achselzucken abzutun, oder dieses Schlagwort gar unter dem Aspekt der Polemik gegen die Schule zu sehen.

Gerade heute wird die Schule als so belastend empfunden, wo doch so viele Kräfte daran arbeiten, dem Kind das Lernen zu erleichtern. Man erstrebt die Humanisierung der Schule durch kindgemäßen Unterricht. Die. Entwicklung in der Didaktik und die Erkenntnisse der Psychologie müßten doch irgendwie einen Erfolg haben. Unterrichtsmittel und Lehrbehelfe werden immer vollkommener. Versuche, praktische Geräte und Einrichtungen, Dias, Bilder, Tonbänder, Filme veranschaulichen den Lernstoff und bringen Abwechslung, damit die Aufmerksamkeit nicht ermüde.

Man gibt sich alle Mühe, dem Schüler. Lernbehelfe zur Verfü gung zu stellen; jeder Schüler besitzt für jedes Fach Bücher mit Bildern, von denen frühere Schülgergenerationen nur träumen konnten. Das Schulgesetz verlangt, daß jede Schularbeit, jeder Test und jede Prüfung angekündigt werden muß. Uberra- schungseffekte sind völlig ausgeschlossen, keine Prüfung trifft den Schüler wie der Blitz aus heiterem Himmel. Es können auch nicht mehrere Prüfungen an einem Tag kumulieren, ein Test in einem Fach und eine Prüfung in einem anderen Fach schließen einander aus.

Alles im Interesse des Schülers! Der Schüler kann seine Meinung äußern, er wird angehört. Weiß er die Form zu wahren, so kann er mit Entgegenkommen rechnen. Bei Gruppenarbeit oder Partnerarbeit ist er nicht allein vor ein Problem gestellt, sondern versucht, es gemeinsam mit einem Kameraden zu lösen. Eigenständigkeit wird dem Schüler zugestanden, seine Selbständigkeit entfaltet. Der Schüler kannjeige- nes Wissen und eigene Erfahrung in den Unterricht einbringen. Und trotzdem werden die Klagen über die Überforderung immer lauter.

Unter Schulstreß leidet vor allem der gute, lerneifrige, willige Schüler, der nicht überdurchschnittlich begabt ist. Im Extremfall lemt er weit über das gesunde Maß hinaus, vernachlässigt Sport, Freizeit, Gesellschaft. Durch sein verkrampftes Streben nach Erfolg verliert er die Unbeschwertheit und Fröhlichkeit. Durch seine rigorosen Ansprüche an sich selbst leidet er unter Mißerfolgen sehr.

Ebenso leidet er an Unzulänglichkeiten innerhalb der Klassengemeinschaft. Ist das Arbeitsethos einer Klasse nicht sehr hoch, dann wird er als unbewußte Mahnung des schlechten Gewissens mißtrauisch beäugt oder als Streber angeprangert. So kann es sein, daß er unter Schuldgefühlen resigniert.

Den lernunwilligen Schüler trifft der Streß nicht. Er läßt sich gehen. Lemauf- träge und Arbeiten erledigt er mehr schlecht als recht, im Leerlauf ähnlich sinnlos, wie wenn ein Sportler sich durch gemächliches Schlendern trainieren wollte. Zwar lenkt er sein Interesse auf mancherlei Dinge, zu denen aber nicht die Schule gehört.

Gegen Frustrierung durch Ermahnungen hilft er sich am besten durch einen dicken Seelenpanzer. Er investiert seinen Tätigkeitsdrang nicht in die Erwerbung von Wissen, sondern be trachtet seine Unternehmungen als durch den Stundenplan unangenehm unterbrochen. Daher schaltet er im Unterricht komplett ab und wird nur dann munter, wenn es gilt, durch Störaktionen den Unterricht auch für andere Schüler unattraktiv zu machen.

Um diese Schüler zur Ruhe zu bringen, geht viel Zeit verloren, die zur Festigung des Lehrstoffes notwendig wäre. Sie erschüttern die Geduld des Lehrers, die er so notwendig für die schwachen Schüler brauchen würde.

Die Wissenschaft nimmt für sich in Anspruch, für alle Erziehungsfragen zuständig zu sein. Kann man eine Aussage als „wissenschaftlich“ apostrophieren, so prallen alle Argumente, die aus dem gesunden Menschenverstand und aus der Erfahrung stammen, an diesem Postulat ab.

Was aber von der Wissenschaft beobachtet wird, ist immer ein Objekt. Das Kind wird zum „Fall“, an dem die betreffenden

Erkenntnisse angewendet werden. Es werden Reaktionen gezählt, Verhaltensweisen gemessen. Der ganze aufwendige Prozeß läuft nebenher, sozusagen dem Menschen entfremdet.

Der Erzieher läuft Gefahr, immer mehr dem Kind nur wissenschaftliches Interesse entgegenzubringen statt persönliches. Das führt dazu, daß einen Lehrer echte Sorge um ein Kind und dessen Zukunft gar nicht mehr abgenommen wird. Für viel wahrscheinlicher hält man andere Motive, den Wunsch nach Erfolgserlebnissen, den Wunsch, sich als guter Lehrer zu profilieren.

Das Kind und seine Entwicklung muß dem Lehrer ein

_ echtes Anliegen sein. Es darf nicht zu einem Objekt von Manipulationen werden, deren Erfolg nur der Selbstbestätigung dient. Man hat den Eindruck, die Wissenschaft stelle den Lehrer mit einigen Gebrauchsanweisungen in ein Labor: er brauche nur die richtigen Ingredienzen zu mischen und schon erhalte er das gewünschte Produkt.

Wo sich die Dinge derart an der Oberfläche abspielen, fehlen die tieferen menschlichen Dimensionen. Wo bei einer menschlichen Begegnung alles sagbar ist und in Tabellen einzuordnen ist, fehlt die das ganze Menschsein umfassende beglückende Kommunikation. Ist es wirklich richtig, daß sich (zitiert nach Härtling und Döring) der Lehrer „als wissenschaftlich denkender und arbeitender Fachmann für Unterricht und Erziehung versteht und über die notwendigen psychologischen und sozialpädagogischen Techniken verfügt“?

Hand in Hand mit der Überschätzung der Wissenschaft geht die Überschätzung des Wissens und der Kenntnisse. Man beklagt die unzumutbare Stoffülle, aber keiner bekommt sie in den Griff. Anstatt durch die einzelnen Fächer in einer Art Zusammenschau die Reichhaltigkeit dieser einen Welt zu zeigen, stopft jeder Fachgelehrte immer mehr Stoff in sein Fach, ohne von den andern Fächern etwas zu wissen oder sich um sie zu kümmern. So strebt alles radial auseinander, anstatt daß dem geistigen Menschsein Ring um Ring zuwachse und eins das andere, ergänze. Die Last habet) die Schüler zu tragen, die er-, drückt werden, statt wachsen zu können.

(Die Autorin ist Hauptschullehrerin in Aigen im Mühlviertel. Frühere Beiträge von ihr erschienen in dieser Reihe in den Nummern 29 und 41 der FURCHE.)

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