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Schwarzfüße und Harkis

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Zu oft wird das schmückende WoH „historisch“ für einen internationalen Kongreß, eine Staatsvisite oder einen diplomatischen Akt gebraucht, und man muß zugeben, daß damit der Wert dieser Bezeichnung höchst zweifelhaft geworden ist. Trotz einer solchen Überlegung sei es aber gestattet, den Besuch Valery Giscard d'Estaings in Algerien als eine Tat von geschichtlichem Ausmaß zu bezeichnen. Zwischen Frankreich und dem nordafrikanischen Staat lagen die blutigen Schatten eines rücksichtslosen Kolonialkonfliktes, der das häßliche Antlitz eines subversiven Krieges trug. Das Parteienregime der IV. Republik war dieser Prüfung in keiner Weise gewachsen und wurde durch einen Putsch der weißen Siedler und der Armee am 13. Mai 1958 hinweggefegt. General de Gaulle übernahm, buchstäblich in letzter Minute vor einem Bürgerkrieg, die Macht und vermochte schließlich, trotz allergrößter Schwierigkeiten, Algerien die Freiheit zu geben.

Es sind die Ärmsten der Armen, jene 230.000 Personen algerischer Abstammung, die heute unter dem Sammelbegriff „Harkis“ eine Herausforderung für den französischen Staat darstellen. Auf dem Höhepunkt des Krieges hatten die Militärbehörden in Nordafrika Selbstschutzver-

bände der Einheimischen gegründet und verschiedene Gruppen zur Unterstützung der eigenen Aktionen eingesetzt. Zum Vergleich ein ähnlicher Vorgang während des Zweiten Weltkrieges: Die Deutsche Wehrmacht hatte in der Sowjetunion Hilfswillige rekrutiert, die den schönen Namen „Hiwis“ erhielten. Wie die „Hiwis“, wurden dann die Harkis als Verräter an den Pranger gestellt. Nach dem Friedensvertrag von fivian gelang es den meisten von ihnen, rechtzeitig in das Mutterland zu fliehen, einige hundert jedoch wurden auf oft bestialische Weise in Algerien ermordet. Die Geretteten erhielten die französische Staatsbürgerschaft und leben jetzt in Ghettos — zwar nicht interniert, aber vollkommen isoliert von der übrigen Bevölkerung. Ihren Familien ist es bis heute nicht gestattet worden, Algerien zu verlassen. Sie haben auch keinen Kontakt mit den arabischen Gastarbeitern. Alle Versuche, sie zu assimilieren, sind gescheitert. Immer häufiger kommt es vor, daß einige in den Hungerstreik treten, um die Öffentlichkeit auf ihr freudloses Leben aufmerksam zu machen. Es ist bisher nicht bekanntgeworden, ob Giscard d'Estaing diese Frage mit dem Präsidenten Boumedienne erörtern konnte. Es bestellten auch weiterhin zahlreiche psychologische

Schwierigkeiten für eine Aufnahme der Ex-Harkis in den algerischen Staatsverband. Auf alle Fälle sind sie eine Quelle der Unruhe, die im lokalen Bereich zu Reibereien und Konflikten Anlaß gibt.

Dagegen haben die beiden Staatsoberhäupter die Existenz von 845.000 Algeriern in Frankreich eingehend erörtert. Sie sind die stärkste ausländische Kolonie, gefolgt von den Portugiesen mit 821.000 und Italienern mit 573.000 Menschen. Natürlich haben die Portugiesen und Italiener mit geringeren Schwierigkeiten zu kämpfen als die Nordafrikaner, die von der französischen Bevölkerung als Fremdkörper betrachtet werden. Das Schimpfwort für den Algerier, „Bicot“, wird leider nur zu häufig verwendet. Die Verteidiger der reinen französischen Rasse fragen sich nur in den seltensten Fällen, wer das Wirtschaftswunder der sechziger Jahre mitbewirkt hat. Immerhin gehören 467.500 Algerier der aktiven Bevölkerung an. Nimmt man das Beispiel der Regie Renault, so können die 4000 Algerier, die im Hauptwerk arbeiten, für sich in Anspruch nehmen, in ganz wesentlicher Weise an der Entwicklung des größten Automobilkonzerns Frankreichs teilgenommen zu haben. Wohl wurde in den letzten Jahren von französischer Seite manches unternommen, um das Schicksal der Immigranten zu verbessern, aber die Leute sind auch weiterhin in ihrer persönlichen Sicherheit bedroht. Im Raum von Marseille konnte man seit 1971 Dutzende von ermordeten Algeriern verzeichnen, die der Vendetta extremer Rechtskreise zum Opfer gefallen waren. Eine bisher noch nicht aufgespürte Terrororganisation, „Karl Martell“ genannt, rühmt sich verschiedener Bombenattentate und Morde. Seit Poniatowski Innenminister wurde, verstärkte die Polizei ihre Recherchen, um dieser Art von

Terrorismus Herr zu werden. Viel Positives ist dabei vorläufig nicht herausgekommen. Seit September 1973 sperrt Algerien die Auswanderung, und Präsident Boumedienne erwog sogar, die Masse seiner Landsleute zurückzuholen. Die demographische Revolution Algeriens — sie wird nur noch von China und Indien übertroffen — macht jedoch derartige Pläne illusorisch. Die Uberweisung der Löhne der Gastarbeiter in ihre Heimat gestattet es Tausenden von Großfamilien, zu leben. Weiter hat der junge Staat, nicht immer gut beraten, eine Industrie aufgebaut, die mit relativ wenig Arbeitskräften auskommt. Die vielzitierte Agrarreform hat noch keine absolut positiven Seiten gezeitigt. Also müssen die 845.000 Menschen versuchen, so gut wie möglich in ihrem Gastland den eigenen Sitten und Gebräuchen gemäß zu leben. Nicht nur einmal ist es, besonders in Südfrankreich, zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Franzosen und Algeriern gekommen.

Die ehemaligen weißen Siedler, seinerzeit „Pieds-noirs“ — „Schwarzfüße“ — genannt (der Name soll während der Eroberung Algeriens durch französische Truppen entstanden sein, als die Soldaten schwarze Galoschen trugen), sind hauptsächlich in Frankreich angesiedelt worden, nur ein kleiner Teil zog das südliche Spanien oder Lateinamerika vor. Die „Schwarzfüße“ konnten jedoch ihre einstige Heimat nicht vergessen und bildeten recht einflußreiche Vertriebenenverbände, die ein Element der französischen Innenpolitik darstellen. Der Staat zeigte sich gegenüber den Rückwanderern keineswegs großzügig und das nationale Budget sieht lediglich jährliche 0,29 Prozent vor, um den Entschädigungsverpflichtungen gerecht zu werden. Das hinterlassene Vermögen der weißen Siedler wird mit

50 Milliarden Francs angegeben. Das gegenwärtige Gesetz gewährt jedoch nur 10 Prozent Schadenersatz und der einzelne Rückwanderer muß sich mit 130.000 Francs begnügen. Die

„Schwarzfüße“ fühlen sich in Frankreich unverstanden und wenig geliebt. Sie hatten gehofft, Giscard d'Estaing werde sich aufgeschlossener zeigen als General de Gaulle und Pompidou. Die Enttäuschung unter den Rückwanderern ist jetzt, nach der Algerienreise Giscards, groß.

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