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Schweden, das Wunder im Norden

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„Schwedische Kultur ist daher vielleicht heute mehr ,amerikanisiert' als amerikanische.“ (Aktuelle Kulturdebatte in Schweden, Schwedische Woche, Wien 1967.) „Irgend etwas in dem Stil, wie wir es machen, werden früher oder später alle Industrieländer machen müssen.“ (Tage Erl ander, schwedischer Sozialdemokrat, Ministerpräsident 1949 bis 1969.) „Wir wollen lieber ein großes Schweden werden als ein kleines Amerika.“ (SPD-Politiker im Wahlkampf 1972, BRD.)

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„Schwedische Kultur ist daher vielleicht heute mehr ,amerikanisiert' als amerikanische.“ (Aktuelle Kulturdebatte in Schweden, Schwedische Woche, Wien 1967.) „Irgend etwas in dem Stil, wie wir es machen, werden früher oder später alle Industrieländer machen müssen.“ (Tage Erl ander, schwedischer Sozialdemokrat, Ministerpräsident 1949 bis 1969.) „Wir wollen lieber ein großes Schweden werden als ein kleines Amerika.“ (SPD-Politiker im Wahlkampf 1972, BRD.)

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Ob die Schweden selbst ihr jetziges Experiment, beachtet und vielfach bewundert, wie es in aller Welt ist, als ein Exportmodell ansehen möchten, mag umstritten sein. Olaf Palme, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Schwedens und seit 1969 Ministerpräsident, ist in diesem Punkt noch zurückhaltender als sein Amtsvorgänger Tage Erlander, der an der Entwicklung dieses Modells nach dem zweiten Weltkrieg 20 Jahre lang beteiligt gewesen ist. Nach Herkunft und Anschauung ist die Sozialdemokratie in Schweden von der in Österreich dadurch verschieden, daß Schwedens Sozialdemokraten in der Zeit, während der ihre österreichischen Genossen den Austromarxis-mus entwickelten, von jedem radikalen Marxismus abrückten. Dennoch steckte in dem 1901 geborenen Sozialdemokraten Erlander noch mehr von jenen marxistischen Denkvorstellungen des 19. Jahrhunderts, denen zufolge im Fortgang der industriellen sowie der sozialen Revolution quasi eine innere Gesetzmäßigkeit steckt, die für Freund und Gegner bezwingend sein soll. Palme, um eine Generation jünger als Erlander, wuchs in einem anderen geistigen

Klima auf: der Herkunft nach so gut Balte wie Schwede, Patriziersohn, geschockt wie die erste Generation in den USA nach 1945 (inmitten der er studierte), ist innerlich gespalten, wie es dem in der „freien Welt des Westens“ vielfach verbreiteten Typ des „Beatniks im Technokraten“ zukommt. Seine wirtschaftspolitische Vorstellung: man müsse weitermachen, man dürfe nicht das Tempo verlieren, entspricht dem Glauben an das im Industriesystem der Technokraten entwickelte Modell des Perpetuum mobile: immer mehr investieren, produzieren, immer mehr konsumieren ... Und sein zum Teil bis zur Verneinung gesteigerter Krit-tizismus gegenüber dem American Way of Life entspricht jenem angesichts des Krieges in Vietnam, der Armut der 'Slums, des Rassenproblems entstandenen belliziosen Nonkonformismus des Intellektuellen, der neuerdings Schwedens Außenpolitik häufig in eine Linie mit den erklärten Feinden der USA führt.

Es liegt in der Natur der seelischen und materiellen Verfassung, in die viele Deutsche und Österreicher nach 1945 geraten sind, daß sich in diesen eher der Hang zur Nachahmung des anderswo scheinbar Bewährten zeigt, als jene eigene Ausbildung und Entwicklung, die Voraussetzung für ein Leben in Freiheit ist. Nach dem totalen Sieg der von den USA angeführten „Großen Demokratien des Westens“ über den Hitlerismus hat sich die in Ansätzen bereits vorhandene Uberzeugung verstärkt, daß es den Menschen in den USA offenbar gelungen ist, dank ihrer demokratischen Lebensform (Way of Life), ein vollkommeneres Menschentum zu entwickeln, als es die Kulturnationen der Alten Welt zustande bringen. Ein zeitweise bis zur Ideologie gesteigerter „Amerikanismus“ ließ es als notwendig erscheinen, eigene Kulturtraditionen, die sich quasi als rückständig, unbrauchbar und gefährlich erwiesen, fallen zu lassen und auf die in den USA entwickelten einzuschwenken. In dem Maße, in dem seit den fünfziger Jahren jene Selbstgewißheit wieder wackelig wurde, mit der gewisse Kreise diesseits und jenseits des Atlantiks anfänglich die missionierende Wirkung des Amerikanismus genährt hatten, ließen sich auch in Europa, vor allem in der BRD, vielfach Intellektuelle zu jenem Antiamerikanismus bekehren, der im Verlauf der Marx-Renaissance der sechziger Jahre zumal in Kreisen der aus den USA stammenden Neuen Linken entstanden war. Jetzt, 1970, erklärt Karl Steinbuch in seinem „Programm 2000“ die amerikanische Politik und den American Way of Life für „unfähig, Freiheit und Menschenwürde zu erhalten“. 1967 bereits, anläßlich einer Schwedischen Woche in Wien, zeigte Ulrik Herz (Stockholm) einen entsprechenden Zielwechsel in der aktuellen Kulturdebatte in Schweden auf: Demnach seien die USA — noch

— ein Land des Wohlstands und der breiten dominierenden Mittelklasse

— ebenso wie Schweden es ist. Aber in den USA würden „bedeutende geistige Energien gebunden“ im Engagement für politische Auseinandersetzungen, die Schweden nicht unmittelbar angehen: Vietnamkrieg, Rechte der Neger, Massenarmut. Es sei schwer, in Schweden für Kulturschaffende „stellvertretende Egage-mentsgründe zu finden“. Denn: der Krieg in Ostasien liegt weit ab, der Kampf gegen die in Schweden bestehende Form der „Armut“ müsse wohl hauptsächlich den Ärzten, Fachpsychologen und Wohlstandspflegern überlassen bleiben. Schwedens Kultur sei daher vielleicht heute mehr amerikanisiert als die amerikanische. Hier wird die Malaise des linksliberalen Intellektuellen von heute sichtbar: im quieszierten Wohlstandsland muß eine „dramatische Demokratie“, wie sie seit den fünfziger Jahren in den USA existiert, quasi erst inszeniert werden.

Zwischen antikonformistisch und asozial

1967 konnte Herr Dr. Herz aus Stockholm im milden Klima Wiens noch ganz ungeniert sagen, die große Mehrheit in Schweden, vor allem die kulturell und gesellschaftlich bewußten Menschen, hielten dafür, daß man die „Freiheit, die spielerische Haltung und damit im Grenzfall die Verantwortungslosigkeit“ ziemlich weit treiben könne.

• Aber wieweit? Zum Beispiel zur voll legalisierten sexuellen Promiskuität, wenigstens der Erwachsenen, also zur unbegrenzten Wahlfreiheit der erotischen Beziehungen? Ja, sagt der Doktor, das scheint nicht so gefährlich zu sein, wie man es sich früher gedacht hat und es löst vielleicht manche individuelle und soziale Komplaxe.

• Aber gilt dieses Gewährenlassen auch für die populäre Rauschgiftphilosophie und die daraus gezogene Praxis für die organisierte Gesellschaft? Diese Frage will der Herr Doktor offenlassen. • Und was ist mit der gesellschaftskritischen „Kulturattitüde der jungen Generation“, wo diese gesellschaftsfremd, schlimmstenfalls gesellschaftsfeindlich geworden ist? Gibt es dazu.Alternativen? Der Herr Doktor verschrieb 1967 das klassische Hausmittel der Liberalen: darüber reden und diskutieren. Also: Anamnesen, Diagnosen, keine Kuren.

Das Image Schwedens, das jetzt die SPD in ihrer Wahlwerbung anläßlich der Bundestagswahl 1972 propagandistisch herausstellt, mag vielleicht ein Ersatz für ein Bild von Deutschland sein, das dem dortigen Sozialismus abgeht. Daheim sieht Schweden anders aus. Aber: falsche Propheten, denen selbst kein Wunder gelingt, erzählen gerne von Wundern, die sie anderswo gesehen haben wollen, um Wundergläubige zu befriedigen. Die Schweden, ungläubig, wie sie zumeist geworden sind, reden daheim nicht von einem Wunder; aber sie würden sich wundern, wenn sie das Wunderbild ihres Landes zu Gesicht bekämen, das in der BRD die SPD zwecks Wahlwerbung zur öffentlichen Verehrung ausstellt. Es ist ein Bild Schwedens, dessen künstlerische Qualität in der Kunst des Weglassens besteht:

Da ist nichts von jenem Sozialismus zu sehen, dessen Rhetorik seine Realität bei weitem übertrifft. Da ist nichts von jenem prosperierenden Kapitalismus zu sehen, vom Privatkapitalismus Schwedens, der sich vom hiesigen Staatskapitalismus unterscheidet. Da ist nichts von der aufs höchste entwickelten bewaffneten Neutralität zu sehen, von einer sehr kostspieligen Rüstung, über die man auf deutsch lieber nicht redet. Da fehlt der schattierte Background des hohen Lebensstandards, von dessen Problematik man vorläufig nur weiß, daß sie spätestens in zehn Jahren alle Industriestaaten an sich haben werden. Und so weiter und so weiter...

Als die Sozialdemokraten Schwedens ihr nunmehr bereits Jahrzehnte währendes Experiment mit Erfolg starteten, da war das Eigenschaftswort „sozialdemokratisch“ eine Aussage über Ziele, Methoden und Typen. Eine derartige Aussagekraft hat der Sozialismus heute in keinem Land. Angesichts existentieller Probleme des einzelnen Menschen und der Menschheit offeriert er: Praxis von Fall zu Fall. Praxis als Möglichkeit. Bewußtsein bisheriger Leistung. Schweden 1972 präsentiert den Deutschen und Österreichern zusammen mit dem Leistungsausweis von heute die Problematik, die im nächsten Jahrzehnt auf Industriestaaten zukommen wird. Man redet und diskutiert über diese Problematik in Stockholm, in Bonn, in Wien. Und hofft, daß Wahlen von heute Erfolge von gestern honorieren und das Fehlen der Programme für morgen vergessen lassen.

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