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Schweden: Ein Sozialstaat wurde zum Sozialfall

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Am Dienstag und Mittwoch dieser Woche besuchte Bundespräsident Thomas Klestil den EG-Beitrittskandidaten Schweden. Dort kollabierte das seinerzeit so hochgepriesene Sozialsystem.

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Am Dienstag und Mittwoch dieser Woche besuchte Bundespräsident Thomas Klestil den EG-Beitrittskandidaten Schweden. Dort kollabierte das seinerzeit so hochgepriesene Sozialsystem.

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Jahrzehntelang galt Schwedens Sozialsystem als Vorbild für die Wohlfahrtsstaaten der Welt. Das Ge-sundheits- und Schulwesen, die weitgefächerten Schulungssysteme für freigestellte Betriebsarbeiter, die häufig in Anspruch genommene Ffüh-pension, die ausgedehnten Karenzurlaube für Mutter und Vater und andere „Segnungen” verursachten den sich seit langem abzeichnenden Kollaps.

Bei der Steuerbelastung, gemessen im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), erreichte Schweden mit 53 Prozent die Weltspitze. Weit entfernt von Österreich (im Mittelfeld mit 43 Prozent) und viel weiter entfernt von Japan, der Schweiz oder den USA mit unter 35 Prozent, konnten die ständig expandierenden Staatsausgaben immer weniger durch Steigerung der Wirtschaftseffizienz kompensiert werden. Anfang Juli stieg die Zahl der Arbeitslosen - mit Steuer-geldernjahrelang zurückgestaut-auf 445.000 und erreichte damit historische zehn Prozent. Düster ist auch die OECD-Prognose für das laufende Jahr, wonach Schwedens Wirtschaft stärker schrumpfen wird als die der sonstigen Staaten, nämlich um zwei Prozent.

Mit dem wachsenden Anspruch stieg der Mißbrauch: Milliarden wurden für die Gesundheitsvorsorge ausgegeben, immer effizienter wurde Schwedens Medizin, aber der durch das Krankschreiben verursachte Ausfall von Arbeitszeit erreichte die größte Rate der Welt, nämlich 20 Prozent. Hunderttausende wählten die staatsversicherte Frühpension, die Arbeitszeit wurde immer kürzer, die Urlaubszeit immer länger. Abertausende Empfänger von Arbeitslosengeld arbeiteten „schwarz”.

Der Kollaps des seinerzeit hochgepriesenen Sozialsystems veranlagte den Leiter des schwedischen Institutes für Zukunftsforschung, Aake E. Andersson, zum traurigen Schluß, daß der Mensch wie das HIV-Virus wirkte, indem er das in seinem Interesse zuwegegebrachte vorbildliche Sozialsystem mißbrauchte und zum Scheitern brachte.

Anlaufschwierigkeiten

Dem erSten Anlauf der Konservativen unter Carl Bildt, die im Herbst 1991 die beinahe 50 Jahre währende Macht der Sozialdemokraten ablösten, die ausufernden Sozialausgaben in den Griff zu bekommen, wurde kein Erfolg beschieden. Der Vorschlag, jeder Bürger dürfe einen Fonds im Ausmaß seines Jahreseinkommens zur Finanzierung von Sozialleistungen schaffen, fand keine Resonanz. Zusätzliche Schwierigkeiten bereitete die

Kürzung der Ausgleichssteuer für Großverdiener um 40 Prozent. Das Budgetdefizit wurde größer, das Gerechtigkeitsgefühl vieler Bürger verletzt.

Der neuen Regierung blieb nichts anders übrig, als die Sozialleistungen zu kürzen. Gemeinsam mit den Sozialdemokraten wurde ein Maßnahmenpaket geschnürt, das die Unterstützung für die ersten Krankheitstage aufhob, die Urlaubszeit kürzte, die Frühpensionierung erschwerte und die Steuer erhöhte. Die zwei Millionen Mitglieder zählende Gewerkschaft „LO”, die einen Proteststreik ausrufen wollte, wurde von den Sozialdemokraten mit dem Hinweis zurückgepfiffen, daß politische Konflikte nur durch demokratische Wahlen gelöst werden. Im ersten Regierungsjahr 1992 der Konservativen konnte die Steuerbelastung von 53,2 auf lediglich 50,4 Prozent gekürzt werden.

In Betracht werden weitere Reformmaßnahmen gezogen und zwar unter anderem: Differenzierte Behandlung von Groß- und Kleinverdienern, Bildung eines von während der Aktivzeit gezahlten Steuern gespeisten Fonds, der die in Anspruch genommenen Sozialleistungen finanzieren solle, wobei der ungenützte Teil zur Erhöhung der Alterspension verwendet werden könnte.

Aufmerksam werden auch die Erfahrungen Singapurs verfolgt. Dort wird von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein „Fonds des humanen Kapitals” gebildet, aus dem rückzahlbare Darlehen für Gesundheitsbetreuung, Ausbildung et cetera gewährt werden.

Vorbild Singapur

Die Finanzierbarkeit des Sozialsystems der Wohlfahrtsstaaten ist nicht nur in Schweden an die Grenzen seiner Finanzierbarkeit gestoßen. Wenn auch niemand wagt, das ominöse Wort „Sozialabbau” in den Mund zu nehmen, so ist man sich doch dessen bewußt, daß ohne eine vernünftige Strategie der Einnahmen und Ausgaben der Sozialstaat, eine der größten Errungenschaften der Nachkriegszeit, in Gefahr geraten könne.

Unbestritten ist dabei die Tatsache, daß es sich nicht nur um kurzfristige Maßnahmen zur Überbrückung der durch die Rezession verursachten Schwierigkeiten handelt, sondern um eine langfristige Strategie, die zur Absicherung des modernen Sozialsystems vor dem drohenden Kollaps eingeleitet werden müsse.

Selbst wenn das Ende der Rezession abzusehen ist, bleibt die Beschäftigungskrise als dauerhaftes Problem. Die technische Revolution drängt nämlich vor allem die „blue collars” aus dem Arbeitsprozeß und wird es auch weiter tun.

In der Schlußerklärung der Staatsund Regierungschefs der G-7 vom 9. Juli 1993 war zu lesen: „Wir sind besonders besorgt über die Höhe der Arbeitslosigkeit. Mehr als 23 Millionen Menschen sind in unseren Ländern arbeitslos” und ferner „ein beträchtlicher Teil der gegenwärtigen Arbeitslosigkeit ist struktureller Natur”.

„Wir brauchen größere Flexibilität bei den Löhnen”, „alle Sozialversicherungssysteme sollten überprüft werden”, heißt es in den Erklärungen der mächtigsten Industriestaaten. Die geforderten Maßnahmen werden aber nicht nur dort benötigt.

Erheblich sind die Differenzen bei der Gestaltung der Arbeitszeit ebenso wie in der der Arbeitspolitik. Japan etwa, wo die Arbeitszeit 2.100 Stunden im Jahr beträgt, möchte diese auf 2.300 erhöhen. In Österreich dagegen, das mit 1.714 Jahresstunden die nach Dänemark niedrigste Arbeitszeit aufweist, ist erst vor kurzem die Diskussion über die Kürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden verstummt. ..

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