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Schweiz: Ist das Boot voll?

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Ein „Pendenzenberg" von über 17.000 hängigen Asylgesuchen liegt auf den Tischen der Sachbearbeiter des Eidgenössischen Justiz- und Polizeideparte-mentes. Und täglich kommen neue dazu. Bis Ende des Jahres dürfte ihre Zahl auf rund 25.000 anschwellen. „Ein Ende des Zustromes ist nicht abzusehen", klagt der zuständige Bundesrat Rudolf Friedrich.

Knapp drei Jahre nach Inkrafttreten eines relativ großzügigen Asylgesetzes — in internationalen

Fachkreisen wurde es gar als der liberalste Erlaß gewürdigt — steckt die Schweiz mitten drin in einer leidenschaftlichen flüchtlingspolitischen Diskussion.

Im Spannungsfeld zwischen Humanität und Staatsräson, mit der geschichtlichen Verpflichtung als traditioneller Zufluchtsort Vertriebener und der Hypothek, in den Kriegsjahren 1942/43 mit dem Wort von „Das Boot ist voll" versagt zu haben, verhärten sich die Fronten ständig.

Für die einen ist die praktizierte Asylpolitik (das Gesetz von 1981 wurde unter dem Druck des sprunghaft anschwellenden Zustroms bereits verschärft) viel zu engherzig und nahezu unmenschlich, andere möchten kräftig den Riegel stoßen und den Begriff des Flüchtlings so eng wie möglich fassen.

Bei den Behörden versucht man vorerst einmal den Weg über die verfahrenstechnische Straffung der geltenden Normen zu gehen. Bundesrat Friedrich beschwört das Parlament (bisher vergeblich), ihm zusätzliches Personal zu gewähren, um eine raschere Erledigung der Gesuche zu ermöglichen und Leute, die keinen Anspruch auf Asylgewährung haben, weil sie nicht als Opfer staatlicher und politischer Verfolgung betrachtet werden, zurückzuschaffen. Davon erhofft man sich eine präventive Wirkung, um die Anziehungskraft der Schweiz als Asylland zu dämpfen.

Die Prüfung eines jeden Asylgesuches ist sehr aufwendig und dauert - bei Ausnutzung aller

Rechtswege - oft bis zu acht Jahren. Nach einer so langen Wartefrist ist es aber vielfach aus menschlichen Gründen nicht mehr möglich, eine Ablehnung des Gesuches überhaupt durchzusetzen.

Das zuständige Departement ist allerdings überzeugt, daß viele der Asylanten nicht als Flüchtlinge im Sinne des Gesetzes anerkannt werden können, und ein großer Teil aus wirtschaftlichen Gründen in das „Paradies Schweiz" auswandert und unter Umgehung der fremdenpolizeilichen Bestimmungen mißbräuchlich ein Asylgesuch einreicht.

Oft — so heißt es auch offiziell — steuerten „professionelle, gut informierte und effiziente Schlepperorganisationen" solche eigentlichen Einwanderungsbewegungen, vor allem von Türken, Chilenen und Tamilen.

Gerade bei dieser Bevölkerungsgruppe aus Sri Lanka ist es aber außerordentlich schwierig, abzuschätzen, ob eine wirkliche Gefährdung in der Heimat vorliegt. Die Tamilenfrage ist denn auch zum eigentlichen Kristallisationspunkt der gegenwärtigen Kontroverse geworden.

Während bis Ende der siebziger Jahre hauptsächlich Osteuropäer in der Schweiz um Asyl nachsuchten, kommen heute über 70 Prozent der Bewerber aus der Dritten Welt, was besonders schwierige Integrationsaufgaben mit sich bringt.

Bereits sind parlamentarische Vorstöße hängig, die eine neuerliche Verschärfung des Asylgesetzes fordern — und wenn nicht alles täuscht, dürften sie dem Willen einer Mehrheit des Schweizer Volkes entsprechen.

Xenophobe Bewegungen wittern bereits Morgenluft. Noch kann der Bundesrat mit dem Hinweis auf die europäische Spitzenposition der Schweiz mit einem Flüchtlingsanteil von 1,1 Promille an der Wohnbevölkerung (Osterreich liegt mit 0,8 an zweiter Stelle) mit Recht feststellen: „Es ist nicht wahr, wir betreiben keine schäbige Asylpolitik."

Aber die Zeichen stehen auf Sturm. Die Flüchtlinge stellen die Schweiz vor schwierige Gewissensfragen. „Das Boot ist nicht voll, aber schon leck", titelte die Zürcher „Weltwoche" trefflich.

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