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Direkte Demokratie: Schweizer Modell auf dem Prüfstand

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Unterschiede sind nicht notwendig Defizite. Dennoch können politische Kultur und politische Institutionen der Schweiz für Österreich mehr sein als Vergleichsobjekte.

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Unterschiede sind nicht notwendig Defizite. Dennoch können politische Kultur und politische Institutionen der Schweiz für Österreich mehr sein als Vergleichsobjekte.

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In drei Wellen ragte die Schweiz im 20. Jahrhundert als Vorbild und Argument in den politischen Prozeß Österreichs:

• In der Phase der Konstituierung der jungen Republik von 1918 bis 1920 stand einerseits das vom Untergang der Monarchie nicht tangierte „hauseigene“ rechtsstaatliche Instrumentarium, wohlgehütet durch Hans Kelsen und seine Mitarbeiter, zur Verfügung. Bei Demokratie- und Bundesstaatsfragen andererseits wurden immer wieder Anleihen bei der Schweiz genommen.

• Der bislang bekannteste Ausdruck der Modellhaftigkeit der Schweiz für Österreich findet sich beim Arrangement der Neutralität und ihrer Verankerung im „Moskauer Memorandum“ vom 15. April 1955 „nach dem Muster der Schweiz“. Diese Affinität zwischen Österreich und der Schweiz ist auch am stärksten ins öffentliche Bewußtsein gedrungen.

• Krisenphänomene der Zweiten Republik, eine Erschöpfung der staatspolitischen Konstruktionen nach dem Abgang Bruno Kreiskys verschafften der politischen Kultur und den politischen Institutionen der Schweiz in unseren Tagen neue Attraktivität, wo doch hierzulande - abgesehen von den eben erwähnten Ausnahmen — die Rückschau auf die monarchische Vergangenheit und die Ausschau nach den bundesdeutschen Lösungen meist größeren Anklang fand.

Das Schweizer politische System kann für Österreich fruchtbares Modellmaterial abgeben, aber auch sichtschärfendes Kontrastmittel sein, wo Österreich andere Wege geht.

Der Wunsch, die bisher meist recht allgemeinen Vergleiche und Anregungen noch genauer auf ihre Tragfähigkeit und ihre Reichweite zu prüfen, bewog den Landeshauptmann von Steiermark, Josef Krainer, in Graz Ende Oktober 1985 ein Symposion „Das Schweizer Modell“ zu veranstalten, dessen wissenschaftliche Gestaltung er dem Autor übertrug.

Das Grazer Symposion wollte dem analytischen Diskurs zwischen österreichischen und Schweizer Theoretikern und Praktikern dienen, wobei nach einer fulminanten geschichtswissenschaftlichen Grundlegung durch den Wiener Historiker Gerald Stourzh und einer problemorientierten Bestandsaufnahme durch den St. Gallener Wirtschaftsrechtler und Präsidenten des Schweizer Nationalrats Arnold Koller eine rechts- und sozialwissenschaftliche Nahaufnahme der für Österreichs Innenpolitik besonders interessanten Elemente des Schweizer Modells (Föderalismus, Konkordanzprinzip und direkte Demokratie) durch Max Frenkel/Solothurn, Leonhard Neidhart/Konstanz-Zürich und Wolf gang Mantl/Graz folgte.

Den Abschluß bildete eine prospektive Reformdiskussion zwischen Bernd Schilcher/Graz und Norbert Leser/Wien, in Kontroverse und Konvergenz den politischen Ideenhorizont vor der Folie des Schweizer Systemvergleichs abschreitend. Die politische Kultur „hinter“ den Normen und Institutionen blitzte aus den bei einer abendlichen Lesung dargebotenen Werken Lilian Faschingers/Graz und Hermann Burgers/ Zürich auf.

Ohne Wegretuschierung der Unterschiede zwischen Österreich und der Schweiz nach Geschichte, nach ethnischer, konfessioneller, wirtschaftlicher, bürokratischer, föderalistischer und parteimäßiger Struktur ergaben sich doch für Österreich beherzigenswerte „Schweizer Lektionen“ auf fünf Gebieten:

• Republikanismus: Das politische Selbstbewußtsein der freien und gleichen Schweizer Bürger schafft eine politische Kultur des Republikanismus, der skeptisch ist gegen eine institutionelle Stärkung des personellen Moments in der Politik, gegen Orden und Titel, und ein „Milizsystem“ politischer Aktivität (Ehrenamtlichkeit, Freiwilligkeit) ermöglicht.

• Föderalismus: Der Schweizer Föderalismus ist stark, und er ist stark durch seine demokratische Struktur. Gemeinden und Kantone sind die Zentren des politischen und administrativen Lebens. Sie haben Finanzhoheit, die Ausgabenmengen der drei Gebietskörperschaften sind ungefähr gleich hoch.

• Konkordanzprinzip: In langer historischer Entwicklung setzte sich in der Schweiz das Entscheidungsmuster des „gütlichen Einvernehmens“, der — das Mehrheitsprinzip „entschärfenden“ - Konkordanz der politischen Kräfte durch. Konkordanz und direkte Demokratie ergänzen und korrigieren einander gleichzeitig.

• Direkte Demokratie: Seit al-tersher ist die direkte Demokratie ein Charakteristikum der Schweiz, die uns ganz einfach lehrt, daß die Welt nicht untergeht, wenn man den Bürger auch außerhalb der Wahlen mitreden läßt, daß Form und Verfahren, daß geregelte und rationale Staatswillensbildung mit Bürgerbeteiligung vereinbar sind. Das Schweizer Modell befreite die direkte Demokratie von dem ihr in der Bundesrepublik Deutschland anhaftenden Geruch des Extremismus, des Rätesystems, und zeigte, daß Volksrechte etwas für ganz normale Bürger sind.

• Umfang der Staatstätigkeit: Bürgerbeteiligung auch in Finanzfragen führt in der Schweiz zu Sparsamkeit und realer Subsidiarität, letztlich also zur Begrenzung der Staatstätigkeit, zur Vermeidung von Lizitation und Prestigeprojekten.

Das in bewußter Pluralität angelegte Grazer Symposion war keine „Jubelveranstaltung“, hat Lichter gezeigt, ohne Schatten zu verschweigen.

Der Autor ist Professor und Vorstand des Instituts für Öffentliches Recht, Politikwissenschaft und Verwaltungslehre der Universität Grau.

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