7002120-1987_29_01.jpg
Digital In Arbeit

Schwelender Brand

Werbung
Werbung
Werbung

Mit dem blutigen 15. Juli 1927 kam es zu einer dramatischen Wende im politischen Klima in der Ersten Republik. Der Anlaß für die Ereignisse dieses 15. Juli 1927 war ein Zusammenstoß zwischen politischen Gegnern. Solche Zusammenstöße waren damals nicht selten.

Am Sonntag, dem 30. Jänner 1927, war es nach einer sozialdemokratischen Versammlung im burgenländischen Ort Schattendorf zu einer Konfrontation vor einem Stammlokal von militanten Rechtsextremisten gekommen. Es wurden Steine geworfen und Beschimpfungen ausgetauscht. Ohne daß dabei auch nur ein Fenster beschädigt worden wäre, wurde aus dem Haus scharf ge-

schossen. Es gab fünf Schwerverletzte und etliche Leichtverletzte. Ein Kriegsinvalide und ein achtjähriger Bub starben an den Schußwunden.

Ein Geschworenengericht in Wien sprach alle drei Angeklagten frei. Die Freisprüche der Gewalttäter wurden mit Recht als ein ungeheuerliches Unrecht betrachtet. Dies entschuldigt jedoch nicht den Ton des Leitartikels in der „Arbeiterzeitung“ vom 15. Juli 1927. Dieser motivierte umgehend Protestversammlungen in Wiener Großbetrieben, gefolgt von spontanen Protestmärschen in die Innere Stadt Wiens.

Vorerst kam es dabei zu leichten Zusammenstößen zwischen den völlig unorganisierten und führerlosen Demonstranten und der Polizei. Laut verläßlichen Augenzeugen waren die völlig unvorbereiteten und bis zu diesem Tage mehrheitlich sozialdemokratischen Polizisten eher freundlich. Dann drangen kriminelle und verwegene Jugendliche in den Justizpalast ein, warfen Gerichtsakten aus den Fenstern und steckten schließlich das Gebäude in Brand.

Eine andere führerlose Gruppe stürmte das Gebäude der Tageszeitung „Reichspost“, welche die Freisprüche der Mörder unter dem Titel „Ein klares Urteil“ gutgeheißen hatte. Angriffe auf Polizisten mehrten sich. Eine Wachstube wurde gestürmt.

Als ein völlig außer Rand und Band geratener Mob die Mahnungen von Bürgermeister Karl Seitz ignorierte und die Schläuche der Feuerwehr zerschnitt, gab der Polizeipräsident Johannes Schober den Befehl, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen.

Die Unruhen forderten 89 Tote, davon vier Polizisten. Weitere 120 Polizisten erlitten schwere, und 480 leichtere Verletzungen. Der Polizeibericht gab die Zahl der verwundeten Zivilisten mit 548 an, die „Arbeiterzeitung“ mit 1058. Offenbar hatten zahlreiche Ärzte im Interesse ihrer Patienten keine Meldung erstattet. Die Polizei hatte „Dumdumgeschosse“ abgefeuert, die laut Genfer Konvention nur zu Schießübungen, aber nicht einmal im Kriege verwendet werden dürfen. Außerdem war belastend für die Polizei, daß die meisten Zivilisten, unter diesen völlig unbeteiligte Passanten, in den Rücken getroffen worden waren.

Bei einer Beurteilung der Ereignisse kommt niemand gut weg. Die Freisprüche der Rechtsextremisten, die beleidigende Be-

schimpfungen mit tödlichen Schüssen beantwortet hatten, war schandbar. Es gibt auch keine Rechtfertigung für Polizisten, die fliehende Demonstranten und unbeteiligte Passanten in den Rük- ken geschossen haben.

Unverständlich bleibt, daß die Sozialdemokratie trotz ihrer Entrüstung über den Freispruch der Schattendorfer Mörder durch ein Geschworenengericht auch weiterhin für die uneingeschränkte Kompetenz von Geschworenengerichten eintrat — im Gegensatz zu den „bürgerlichen“ Parteien, die diese Institution in Frage stellten.

Übrigens tendierten Geschworenengerichte in der Zwischenkriegszeit zu bemerkenswerter Nachsicht gegenüber Gewaltverbrechen. Insbesondere bei politisch motivierten Verbrechen waren Freisprüche an der Tagesordnung, da es genügte, wenn fünf der zwölf Geschworenen mit der politischen Anschauung von Angeklagten sympathisierten und damit eine zur Verurteilung notwendige Zweidrittelmehrheit verhindern konnten.

So wurden auch alle einunddreißig Angeklagten, die auf Gründ schwerer Delikte bei den Unruhen am 15. Juli vor Geschworenengerichte kamen, freigesprochen. Leichtere Vergehen dagegen fielen in die Kompetenz von Berufsrichtern und wurden von diesen mit maximaler Strenge geahndet.

Es ist fraglich, ob die Freisprüche der schießfreudigen Rechtsradikalen als Klassenjustiz einzustufen sind, da immerhin sieben der zwölf Geschworenen gegen diesen Freispruch gestimmt hatten. Die Freisprüche der Mörder von Schattendorf werden jedoch bis zum heutigen Tag vielfach als Klassenjustiz interpretiert. Diese Interpretation geht jedoch weniger auf Agitation oder politische Hetzreden zurück als auf bittere

Erfahrungen, die Angehörige der ärmeren Schichten weltweit im Umgang mit Gerichten und Behörden machen.

Diese Feststellung ist übrigens nicht als Alibi für die Brandstifter des 15. Juli 1927 gedacht, sollte jedoch deren Motivation erklären und darüber hinaus der Befürwortung eines Ausbaus der Rechtsstaatlichkeit dienen.

Auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums werden Ereignisse im Zusammenhang mit dem 15. Juli 1927 falsch interpretiert. Hier sah man in den Unruhen den Versuch einer schlecht geplanten sozialistischen Revolution. Erschreckte Bürger und Bauern sahen im brennenden Justizpalast, dem verwüsteten Gebäude der „Reichspost“ und den völlig unerwarteten Angriffen auf anfänglich eher freundliche Polizisten einen Zusammenhang mit der radikalen Phraseologie, deren sich damals Sozialdemokraten häufig bedienten.

Es ist nicht schwer, die Interpretation der Unruhen vom 15. Juli als eine versuchte Revolution zu widerlegen: Ein geplanter sozialistischer Aufstand wäre von den bewaffneten Formationen des Republikanischen Schutzbundes, der Armee der Sozialdemokratie, getragen worden. Dagegen taten in Wien die wenigen kurzfristig mobilisierten Schutzbündler alles, um die Brandstiftungen zu verhindern und angegriffene Polizisten zu schützen.

Gleichzeitig war es in den Hochburgen der Sozialdemokratie außerhalb Wiens ein Verdienst des rechtzeitig alarmierten Schutzbundes, daß es dort zu keinen gewaltsamen Ausbrüchen gekommen ist. In Wien dagegen versagte

die sozialdemokratische Führung wegen ihres mangelhaften Kontaktes mit der „Basis“ der Partei.

Die Lehren aus den Ereignissen des 15. Juli 1927 sind zeitlos und sollten auch 60 Jahre danach zum Nachdenken anregen:

1. Journalisten sollten Konflikte nicht ihrerseits anheizen. Auf keinen Fall sollten Journalisten von sich aus zu gewaltsamen Protesten aufrufen.

2. Die Polizei sollte jederzeit auf angemessene Anwendung von Gewalt vorbereitet sein. Es ist die Aufgabe von Polizisten, für Ordnung zu sorgen, doch dürfen sie sich nicht von Provokationen zu blinder Gewaltanwendung hinreißen lassen.

3. Wer zu Protestaktionen aufruft, sollte sich als verantwortlich für deren Verlauf betrachten.

4. Die Ereignisse des 15. Juli 1927 sowie die Geschichte der Ersten Republik Österreich überhaupt warnen vor allem vor idealistischen Zielen gesellschaftlicher Perfektion, sei dies nun in der Form einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft unter einer weisen autoritären Führung oder in der Form einer klassenlosen und herrschaftsfreien allumfassenden „Basisdemokratie“. Derartige Ziele dienen der Abwertung der notwendigerweise unperfekten parlamentarischen Demokratie.

Außerdem rechtfertigen unerreichbare ideale Ziele die Anwendung von Mitteln, die mit demokratischer Politik unvereinbar sind. Diese antidemokratischen Ideologien sind zwar seinerzeit von dem Ablauf der österreichischen Geschichte kompromittiert worden, aber nicht gänzlich ausgelöscht. Sie könnten im Windhauch lagerpatriotischer Geschichtsfälschungen wieder aufflackern.

Der Autor ist emeritierter Universitätspro- fessor für Soziologie an der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung