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Schwellenängstlich

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Der nette Herr vom Fernsehen hatte eine Idee. Von ihrer Verwirklichung nahm er dann aber Abstand, um uns in unseren Endproben zu Stoppards Dissi- dentical (die Bezeichnung stammt von mir und ist natürlich bereits gesetzlich geschützt) im Theater an der Wien nicht zu stören. Das fand ich nett von dem netten Herrn vom Fernsehen.

Die Idee an sich verdient es, nicht in der Versenkungsschublade so manch gehabter und nicht verwirklichter Ideen zu modern. Der Herr vom Fernsehen beabsichtigte, eine kleine Gruppe von Lehrlingen an der Hand zu nehmen und sie quer durch die Wiener Festwochen zu führen, für viele der Vierzehn- bis Siebzehnjährigen sicher die erste Gelegenheit, so etwas wie ein Theater von innen zu sehen. Für manche wahrscheinlich auch der erste massive Zusammenprall mit so merkwürdigen Dingen, die da Hochkultur und Alter- nativkultur und - als Schreckgespenst und Überschrift über dem ganzen Lehrlingsausflug - Kultur überhaupt heißen. Ein Gespräch mit mir, in Probenatmosphäre, sozusagen in Kostüm ohne Maske, war auch geplant. Es entstand ein „Schade!“ in mir, als nichts daraus wurde.

Wir mußten lange warten auf diesen Proben, so um die fünfundachtzig Mann ORF-Symphonieorchester wollen ihre Proben und auch ihre Pausen. Staunend sieht sich der Schauspieler einem wirklich durchorganisierten Kulturkörper gegenüber. Warten gehört ganz wesentlich zu unserem Beruf, mit oder ohne Orchester. Mehr ohne. Sehr selten mit.

Jeder von uns hat so seine eigene Art zu warten. Im Zuschauerraum des Theaters an der Wien ist Warten schön. Wir vom Burgtheater sind hier auf „Gastspiel“ im Rahmen der Wiener Festwochen, der Raum ist uns nicht so vertraut wie der unsere am Ring, die Augen wandern die Logen und Ränge entlang und der Zuschauerraum erzählt die ewigen alten Theatergeschichten, historische und erfundene und die eigene Phantasie erzählt mit.

Was hätte ich mit den Lehrlingen geredet, wenn sie gekommen wären? Hätte ich sie fragen lassen oder hätte ich gefragt? Schwellenangstabbaugespräch. Ich hätte es sicher falsch gemacht. Wer weiß, wo die schon überall durchgeschleppt wurden und wohin sie eigentlich wirklich hingeschleppt werden wollten. Ich hätte mir wohl eines aus diesen jungen Gesichtern herausgesucht, in dem ich interessierte Augen bemerkt hätte und an denen hätte ich mich festgehalten.

Mein Großvater „rannte“ während seiner Fleischhauerlehrzeit ins Theater, ein paar Mal die Woche wohl, zitierte noch im hohen Alter Passagen aus den Stücken jener Zeit im Deutschen Volkstheater.

Wo „rennen" die heute in der Lehrzeit Befindlichen abends hin?

Sicher nicht dorthin, wo der nette Herr vom Fernsehen und ich so im allgemeinen die Kultur beheimatet glauben. Er und ich hätten da sicher auch schon unsere Schwierigkeiten, allein mit der Definition des Wortes Kultur. Vielleicht wüßte einer der Lehrlinge die einzig treffende? Man hätte doch Gelegenheit haben müssen, sie danach zu fragen.

Wie erreicht man es, daß sich auch nur ein paar von den jungen Leuten wohlfühlen auf diesem Schnellsiedetrip durch Festwöchentliches?

Wer hilft nachher, wenn sie wieder in ihren Betrieben stehen, die Eindrücke verarbeiten, wer betreut die im günstigsten Fall erwachte Neugier auf Kultur, wer vernäht sie, die Kultur, mit der Freizeit? Vielleicht war es gut, daß sie nicht kamen. Ich wäre keine spektakuläre Konkurrenz für Honda und Dis- cothek gewesen.

Nein, schade, daß sie nicht gekommen sind. Nicht einmal meine Schwellenangst ist abgebaut worden.

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