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Sechs Leitlinien für die Erziehungsaufgabe

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Daß die Schule neben der Vermittlung von Wissen und Können auch einen Erziehungsauftrag hat, also Hilfen für die Bildung von Gesinnungen geben soll, wird zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen politischen Systemen verschieden stark betont. Freiheitlich demokratische Staaten, die den Pluralismus von Weltanschauungen bejahen, sind eher erziehungsscheu, weil sie Entartung von Erziehung in Zwangsbeeinflussung und Indoktrination befürchten und weil sie, als pluralistisch, in den Zielen der Erziehung nicht einig sind. Doch gibt es auch hier Wellen stärkeren und wieder schwächeren Erziehungswillens.

Zu Anfang der zwanziger Jahre propagierte man in Österreich die „Erziehungsschule” an Stelle bloßer „Lem- schule”, wobei man besonders an „Gemeinschaftserziehung” im Sinne Alfred Adlers dachte; jetzt spricht man von „sozialem Lernen”. Heute dagegen stehen wir in einer - vielleicht schon auslaufenden - Epoche der Neuaufklärung, in der vom Rationalismus, von verbesserter Technik und Methodologie alles Heil erwartet wird und Tugend Wissen ist. Es bedürfe neben dem Unterricht keiner besonderen Erziehungsbemühung. Außerdem legt es die verschiedene weltanschauliche Herkunft der Schüler nahe, kontroversen und überhaupt Gesinnungsfragen aus dem Wege zu gehen: Rückzug ins bloß Unterrichtliche.

Aber die Stimmen mehren sich, die sagen: das ist Flucht vor der pädagogischen Verantwortung. Man beklagt das Erziehungsmanko besonders der mittleren und höheren Schulen, durch die die Jugend der Orientierungslosigkeit ausgeliefert werde, und weist auf die Aktivitäten der kommunistischen Staaten hin, die neben den Lehrplänen eigene Erziehungspläne praktizieren.

Sind analoge Erziehungspläne auch in einer pluralistischen Gesellschaft möglich? Ist ein Konsens über Erziehungsziele unter ihren Weltanschauungsgruppen denkbar? Man könnte - unter Vernachlässigung feinerer Unterscheidungen - vier Großgruppen nennen:

1 die Gottesgläubigen aller Konfessionen und ohne Konfession; sie betrachten das Leben als Gottesgeschenk und als eine von Gott gestellte Aufgabe;

• die Naturgläubigen (in mehr pan- theistischer oder atheistischer Färbung): Sie betrachten die Annahme des Lebens, auch mit seinen Härten, wie sie auch die Tiere Vorleben, als das naturgemäß Richtige;

• religionslose, agnostische Humanisten: Sie verneinen sowohl einen vorder Humanität, indem der Mensch dem Leben einen Sinn gibt;

• „Entrüstungspessimisten”, Nihilisten: Sie vermeinen sowohl einen vorgegebenen Lebenssinn als auch die Möglichkeit, Sinn zu stiften.

Viele Literaten und Künstler neigen heute in verschiedenen Varianten zu solchen Auffassungen, und gar manche überlassen sich, verführt vom sü ßen Gift des Lebensekels, der zu nichts mehr verpflichtet, dem totalen Defaitismus. Schule und Erziehung können von ihrem Wesen her nicht nihilistisch : sein, aber die drei erstgenannten Gruppen könnten durchaus zu gemeinsamen Leitzielen von Erziehung in den Schulen und auch zu deren Konkretisierungen finden, etwa zu folgenden sechs Leitzielen:

• Die positive Einstellung zum Leben als Mensch: daß einer sie habe, finde und gegen die Anwandlungen der Lebensunlust immer wieder behaupte; für das Tier eine Selbstverständlichkeit, keine für den Menschen und für verschiedene Menschen verschieden leicht und schwer. Wichtigste Hilfe dafür: die unbedingte Zustimmung des Mitmenschen, vor allem der Eltern, der Erzieher, der Lehrer zur individuellen Existenz des Anvertrauten, auch diese Zustimmung ist verschieden leicht und schwer. Konkreter gehört hieher die positive Einstellung zur leiblichen und geistigen Gesundheit, auch die Verteidigungsbereitschaft und -fähigkeit gegen Angriffe auf Leib und Leben - eine heute vernachlässigte Seite des Turnunterrichts -, die Wahrung der Ehre, die Bemühung um die individuell mögliche geistige Selbständigkeit in Urteil und Kritik und vieles andere.

• Die positive Einstellung zur Arbeit, weil der Mensch nicht ohne Produktion und Heranschaffung von lebensnotwendigen Dingen existieren kann. Hieher gehört der Ehrenstandpunkt, daß man das individuell Mögliche zur Eigenversorgung beiträgt und für fremde Hilfe zu Gegenleistungen bereit ist. Familie und Schule sollen zur Arbeit erziehen. Ein konkreter Vorschlag hiezu: Fünftagewoche für die guten Schüler, für die anderen am Samstag Förderunterricht. Diese Maßnahme würde vor allem den „An- strengungsvermeidungsschülem” ihr Handwerk legen.

• Die positive Bewältigung der Zwie- geschlechtlichkeit des Menschen. Hier geht es nicht nur um Sexualpädagogik, sondern auch um einschlägige Anstandsformen, um die prinzipielle Gegenseitigkeit von Glück-Geben und -Empfangen, um die Kultivierung der Geschlechtsbeziehungen, den Schutz der Intimsphäre.

• Die positive Einstellung zur Sozialität, zu den verschiedenen Gemeinwesen, die für ihre Leistungen die Bereitschaft zu Gegenleistungen des einzelnen fordern müssen, so zum Steueraufkommen und zum Verteidigungsbeitrag.

• Die Lebensästethik in der Körperpflege, im Speisen, im Haushalt, in Kleidung und Sprache, aber auch in der individuell möglichen aktiven oder passiven Beschäftigung mit den Künsten.

• Die Bejahung der individuell möglichen Horizonterweiterung durch die wissenschaftliche Allgemeinbildung, wodurch Verständnis für die Natur und für die Kultur, Mitgefühl für Freude und Leid in der Geschichte, zugleich geistige Beweglichkeit bewirkt wird. Die besondere Domäne der schulischen Erziehung liegt in der ethischen (lebenskundlichen) Durchdringung der Fächer.

Ich nehme an, daß in den angegebenen Leitzielen unter den drei erstgenannten Weltanschauungsgruppen Einverständnis zu erzielen ist. In der Konkretisierung kann es zu gegensätzlichen Auffassungen kommen, die ehrlich ausgetragen werden müssen. Hier würde der Geist der Toleranz, die Vermeidung grober Majorisierung, der staatliche Schutz gegen Belästigungen in der Öffentlichkeit zum Ziele führen. Die religiöse Erziehung, heute nicht mehr allgemein, aber dennoch von einer großen Mehrheit bejaht, hat in der freiheitlich demokratischen Gesellschaft ihren anerkannten, aber begrenzten Platz. Den gemeinsamen Zielen gibt sie eine metaphysische Motivation. Auch im pluralistischen System ist planvolle Erziehung möglich und mehr denn je notwendig.

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