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Digital In Arbeit

Sechs Milliarden teures Komma

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Immer komplexere? immer mehr Vorgänge steuernde, immer umfassender vernetzte Computersysteme drohen zu einer neuen Achillesferse unserer hochverwundbaren Gesellschaft zu werden.

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Immer komplexere? immer mehr Vorgänge steuernde, immer umfassender vernetzte Computersysteme drohen zu einer neuen Achillesferse unserer hochverwundbaren Gesellschaft zu werden.

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Zwei Informatiker und zwei Juristen, Mitglieder der „ Projektgruppe verfassungsverträgliche Technikgestaltung” in Darmstadt, geben einen Überblick über die Anfälligkeiten der Informations-und Kommunikationsgesellschaft für Pannen und Sabotage.

Dynamische Schadensäbfolgen, die sich in verflochtenen Systemen wie Schockwellen ausbreiten und verstärken, könnten schon in wenigen Jahrzehnten den Verkehr ganzer Regionen „routinemäßig kollabieren” lassen. In Tokio war es bereits 1985 so weit. Unbekannte kappten 30 Kabel. In Tokio, Osaka und fünf weiteren Großstädten brach der Bahnverkehr zusammen, zehn Millionen Menschen kamen nicht an ihre Arbeitsplätze, Banken, Schulen, Konzerne fielen aus.

Mancher PC-Benützer meint, Computerviren „eingefangen” zu haben, wenn es unmöglich ist, eine andere Ursache für eine geheimnisvolle Störung zu finden. An die mögliche Fehlerhaftigkeit des gekauften Programms denkt er zuletzt. Dabei kann man sich weder auf die Korrektheit einer millionenfach bewährten Textverarbeitung verlassen noch auf die eines mit Millionenaufwand entwickelten, in Kernkraftwerken, der chemischen Industrie oder Raumfahrt eingesetzten Spezialprogramms.

Die Hardware (Geräte) wird immerbesser. Dafür werden Programme immer schlechter. Das liegt an ihrer Komplexität und an der Größe der Programmierer-Heere. 83.000 Programmzeilen steuern das elektronische „Motormanagement” einer US-Limousine, 90.000 den Stift, der im Supermarkt die Preise vom Code auf dem Etikett abliest, 400.000die Tabellenkalkulation im Büro-PC, 25 Millionen Programmzeilen das „Space Shuttle”. Das legendäre Weltraum-Teleskop „Hubble” wurde nicht nur durch einen Steuerungsfehler falsch geschliffen, durch den Fehler eines der 200 Programmierer wurden auch die Kommandos für die Drehung nach rechts und links vertauscht.

Programmfehler können lang schlummern, wenn sie so beschaffen sind, daß sie nur bei einer seltenen Kombination besonderer Umstände zuschlagen. Kein längeres Computerprogramm ist fehlerfrei.Aber eben weil die Verwender von Massenprodukten als unfreiwillige Tester fungieren, bekommt der PC-Anwender mit den Standardprogrammen oft eine fehlerfreiere Software als der Konstrukteur einer Raumfähre.

Im Jänner vorigen Jahres sollte im Kernkraftwerk Bruce in Kin-cardine, Ontario, ein Brennelement ausgetauscht werden. Statt sich langsam zu senken, fiel der computergesteuerte Greifer, der den Dek-kel des Druckgefäßes über dem Brennelement abheben sollte, mit voller Wucht herunter und schlug ein Loch - 12.000 Liter hochradioaktives Schwerwasser liefen aus. Durch eine fehlerhafte Zeile im Steuerprogrämm lösten sich gleichzeitig alle vier Bremsen des Hebezeugs. Und das, nachdem Kran und Programm vier Jahre klaglos funktioniert hatten. Der Fehler war, man glaubt es kaum, längst entdeckt worden. Aber der Mann, der ihn und eine lange Liste weiterer ausbessern sollte, hatte wie ein lässiger Korrektor in einer Druckerei vergessen, ausgerechnet diese Programmzeile richtigzustellen.

In Paris gibt es öffentliche Toiletten, deren Muscheln automatisch nach hinten kippen und mit scharfem Strahl gereinigt werden, sobald der Benutzer das Häuschen verlassen hat. Ein kleines Mädchen kam ums Leben, weil niemand daran gedacht hatte, daß ein Kind auf die Klobrille klettern und damit dem Sensor in der Bodenplatte vortäuschen könnte, das Häuschen sei leer.

Der tödliche argentinische Exo-cet-Treffer auf den britischen Zerstörer „Sheffield” im Falklandkrieg war nur möglich, weil beim Programmieren des Abwehrsystems niemand daran gedacht hatte, das Schiff könnte mit einer Rakete j enes Typs angegriffen werden, den es selber abschoß.

Durch einen Punkt statt eines Kommas im Steuerprogramm ging eine sechs Milliarden Schilling teure amerikanische Venussonde verloren. Auch zwei Mariner-Sonden entflogen wegen einer Punkt-Komma-Verwechslung. Eine Kombination von Programm- und Bedienungsfehlern führte 1988 zum Verlust der sowjetischen Raumsonde Phobos I. Verglichen mit solchen Vorfällen war es eine harmlose Panne, daß der Computer der deutschen Rentenversicherung alle Konten von Personen gleichen Vor-und Zunamens zu einem Konto zusammenfaßte.

Es ist kaum mehr möglich, die Zwischenfälle zu zählen, die dem

Menschen, der sich immer blinder auf die Elektronik verläßt, zur Warnung dienen können. In Colorado reagierte die Computersteuerung einer Kraftwerkskette falsch auf eine ungewöhnliche Wettersituation - sieben Menschen ertranken in den Wassermassen der zur Unzeit geöffneten Schleusen. Durch einen Programmfehler in einem Röntgen-Therapiegerät und Ignorieren der im Handbuch nicht aufscheinenden Fehleranzeige durch die Ärzte starben in US-Kliniken zwei Patienten.

Das alles geschah unabsichtlich. Welche Gefahren der Informationsund Kommunikationsgesellschaft durch Bosheitsakte und Computersabotage drohen, ist nicht absehbar. Das Spektrum reicht von der politisch motivierten Sabotage über Racheakte Entlassener bis zur niederträchtigen, hinterhältigen Schadensstiftung durch immer raffiniertere Virenprogramme.

Die vier deutschen Autoren empfehlen ein Bündel von Maßnahmen. Von der gesetzlichen Festlegung von Sicherheitsstandards für Software und einem Haftungsrecht bis zum Rat, das staatliche Fernmeldemonopol auf alle Fälle zu erhalten. Vor allem gelte es, „Zeit zu gewinnen für eine breite öffentliche Erörterung der Verletzlichkeit im Rahmen einer umfassenden Sozialver-träglichkeitsdiskussion. Zu diesem Zweck muß verhindert werden, daß ein unreflektierter Technikoptimismus vollendete Tatsachen schafft, die später zu bereuen wären.”

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