6814157-1972_51_01.jpg
Digital In Arbeit

Seelenmassage ist zuwenig

Werbung
Werbung
Werbung

Was kaum noch zu erhoffen war, ist eingetreten: Die Sieben-Prozent-Marke der Teuerung hat sich als Schallgrenze erwiesen, von der an die Gesetze der klassischen Propaganda ihre Gültigkeit verlieren: die Regierungspartei hat ihre penetrant zur Schau getragene Sicherheit eingebüßt, die große Oppositionspartei staatspolitische Skrupel bekommen, Bundeskammer und Gewerkschaftsbund haben sich von den Parteisekretariaten abgekoppelt und die alte Nebenkoalition reaktiviert.

Hoch an der Zeit hiefür war es, wenn auch nicht wegen der sieben Prozent Teuerung im Oktober (die nur internationaler Durchschnitt waren) und auch nicht wegen der für 1973 prognostizierten sieben Prozent (die voraussichtlich ebenfalls nur internationaler Durchschnitt wären), sondern weil noch keine Voraussage auf so wackeligen Beinen gestanden ist wie diese. Die Sieben-Prozent-Prognose für 1973 beruht nämlich auf einer Annahme, die zumindest bis zum jetzigen Stabilisierungsanlauf gewagt war: daß nach der Mehrwertsteuereinführung die Inflationsrate nur vorübergehend stark hinaufschnellen würde.

Gewagt war (und ist vielleicht noch immer) diese Annahme deshalb, weil irgendwo jenseits der jetzigen sieben, möglicherweise jedoch diesseits der neun, zehn oder noch mehr Prozent, die sich ohne die jetzigen Stabilisierungsmaßnahmen unversehens hätten ergeben können, der „point of no return“ Hegt: jene Schwelle nämlich, bei deren Überschreitung die Dämme der Lohndisziplin bersten und/oder die Sparer in eine Rette-sich-wer-kann-Panik verfallen. Beides würde verhindern, daß sich die Preiswoge am Geldmangel totläuft und der Indexsprung auch tatsächlich nach zwei, drei Monaten nur noch eine schaurige Erinnerung ist.

Deshalb wäre es auch verfehlt, an das Stabilisierungspaket irreale Erwartungen zu knüpfen oder sich naserümpfend über eine „Stabilität“ zu mokieren, die darin bestehen soll, daß die jahresdurchschnittliche Teuerung, die heuer bei etwa 6 Prozent liegen dürfte, 1973 die prognostizierten 7 Prozent nicht überschreitet:

Erstens ist nicht das Jahresmittel entscheidend, sondern der Monatstrend — kurz: ein Saldo von 6 Prozent zwischen einer unter öprozenti-gen Teuerung zu Jahresbeginn und einer mehr als 7prozentigen zu Jahresende ist ungleich besorgniserregender als selbst ein Jahresdurchschnitt von 7 Prozent, wenn dieser das Ergebnis eines Rückganges der Inflationsrate von 9 Prozent auf 5 Prozent ist —, zweitens und vor allem aber liegt die wirkliche Gefahr, deren Abwendung das Stabilisierungspaket unbesehen zu einem wirtschaftspolitischen Meisterstück machen würde, daran, daß die trabende Inflation, von der Mehrwertsteuer zur Unzeit angepeitscht, ins Galoppieren geraten könnte.

Ob diese Gefahr endgültig gebannt ist? Auch der beste Computer könnte heute darauf keine Antwort geben, denn sämtliche Daten, mit denen man ihn füttern kann (Bindung von 15 Prozent der Ermessensausgaben im Budget. Beschränkung der Kreditausweitung auf 35 Prozent des Einlagenzuwachses, Erhöhung der Bankrate und der Mindestreserve-sätze usw.), sind kein taugliches Efür jene Daten, die man dem Computer nicht eingeben kann: die Erwartungen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen von einigen hundertausend Importeuren, Erzeugern und Geschäftsleuten, von zweieinhalb Millionen Arbeitnehmern und von sieben Millionen Verbrauchern.

Ob die Bremsen genügen, hängt nahezu ausschließlich davon ab, ob sie dies nach Ansicht derer tun, die entweder im Vertrauen auf die Wirksamkeit dieser Bremsen mit ihrem besonnenen Verhalten diese Wirksamkeit selber herbeiführen oder aber, wenn sie den Bremsen nicht vertrauen, mit kollektiver Unvernunft selber dafür sorgen, daß sie nicht genügen.

In Unkenntnis dieser Reaktion Vorhersagen zu erstellen, hieße die Wirtschaftsprognose schlechthin in Mißkredit bringen, denn selbst in das raffinierteste ökonometrische Modell lassen sich die entscheidenden Verhaltensparameter nicht einbauen. In einer Situation wie der jetzigen bestätigt sich nämlich die spitze Definition der Ökonometrie als exakte Prognose der Vergangenheit insofern, als jede Vorhersage in der wohlüberlegten Übertragung von Erfahrungen, die in der Vergangenheit gewonnen wurden, auf die zukünftige Entwicklung beruht. Eine so vollständige Umkrempelung des gesamten Preisniveaus, wie sie die Einführung der Mehrwertsteuer mit sich bringt, hat es aber noch niemals gegeben, und ausländische Erfahrungen heranzuziehen, ist nicht nur deshalb problematisch, weil sie von Land zu Land völlig verschieden waren — Holland etwa hat sich bis heute nicht vom Mehrwertsteuerschock erholt, das benachbarte Belgien dagegen ist heute Riegenführer in der Stabilitätsliga —, sondern auch wegen der von Land zu Land unterschiedlichen Mentalität.

Nach so vielen Vorbehalten, die samt und sonders auf die entscheidende Bedeutung von Stimmungen, Erwartungen und menschlich-allzumenschlichen Verhallensweisen hinauslaufen, doch noch eine Prognose der „Realfaktoren“ zu versuchen, scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Oder vielleicht doch nicht? So entscheidend für das Gelingen der Stabilisierung das Vertrauen der Bevölkerung in eben dieses Gelingen ist, so wichtig ist es, daß sich dieses Vertrauen auf eine reale — und rationale — Basis stützen kann; „Seelenmassage“ allein wäre zuwenig.

Und in der Tat sprechen einige Überlegungen dafür, daß wir eine Meisterung der kritischen Situation in den nächsten Monaten nicht ausschließlich einer unverschämten (und unverdienten) Portion Glück zu verdanken hätten:

Erstens steht zu hoffen, daß zumindest die aggressive Elite unter den Geschäftsleuten — Diskonter, Handelsketten, Versandgeschäfte, Warenhäuser, Großfilialunternehmen — die einmalige Chance nützen werden, ihren Marktanteil dadurch zu vergrößern, daß sie ohne jeden echten Gewinnverzicht ihre falsch kalkulierende Konkurrenz nach Strich und Faden unterbieten Und mit einer Stoßwerbung auch dafür sorgen, daß dies publik wird.

Zweitens hat die „drohende“ Mehrwertsteuereinführung nicht nur schon jetzt einen Preiseffekt gezeitigt, der den Indexsprung im Jänner abschwächen wird, sondern auch einen ganz beachtlichen Mengeneffekt in Form vorgezogener Anschaffungen, forciert zu Ende gebrachter Bauvorhaben usw. Das bedeutet einerseits, daß viele Konsumenten nach Weihnachten knapp bei Kassa oder mit überstürzt eingegangenen Ratenverpflichtungen belastet sein werden, und es bedeutet anderseits, daß die Nachfrage nach Baumaterial, Elektrogeräten, Möbeln und was immer sonst noch rasch vor dem Jahreswechsel überhastet vorgekauft wurde, plötzlich stark absacken wird.

Müßte schon dieser Nachfrageausfall manchen Geschäftsmann zu Preiszugeständndssen bewegen,

kommt als dritter Faktor noch die Verknappung und Verteuerung des Kredits hinzu; das macht einen überhöhten Lagerbestand doppelt schmerzhaft, und schon um sich liquide Mittel zu verschaffen, wird so manches Unternehmen den Abverkauf von Vorräten forcieren müssen.

Viertens wird nach dem Wegfall der Exportrückvergütung und insbesondere der Zollfreizonenmanipulationen für nicht wenige Betriebe der Inlandmarkt wieder interessanter; zumindest aber schwächt sich der Sog auf die Inlandpreise ab, der angesichts eines notorisch unterbewerteten Schillings von überhöhten Exportpreisen ausgegangen ist.

Die Einführung der Mehrwertsteuer hat nämlich fünftens einen aufwertungsähnlichen Effekt, weil die bisherige sogenannte Umsatzsteuerrückvergütung zu schätzungsweise durchschnittlich einem Drittel eine staatliche Exportstützung war und weil auch die Importausgleichssteuer bei vielen Produkten als Schutzzoll für die Inlanderzeugung gewirkt hat.

Sechstens ist von der 30prozenti-gen Zollsenkung gegenüber den EWG-Ländern schon deshalb eine preisdrückende Verschärfung der Importkonkurrenz zu erwarten, weil in unserem Hauptlieferland, der Bundesrepublik, der Inlandabsatz stagniert — das deutsche Bruttonatio-nalprodukt ist heuer nur um etwa 2V Prozent gewachsen —, so daß die unausgenützten Produktionskapazitäten in den Export drängen.

Siebentens schließlich könnte das komplette Unverständnis der Wirtschaft für das Wesen der Investitionssteuer (die das Investieren nicht verteuert, sondern gerade umgekehrt die Verbilligung aller Investitionen durch die — vom Finanzamt refundierte — Mehrwertsteuer bloß zum Teil ausgleicht) insofern sein Gutes haben, als vielleicht manche Investitionen in das Jahr 1974 hinausgeschoben werden dürften, wo nicht nur der Satz der Investitionssteuer sinkt, sondern auch erstmals eine 25prozentige Sonderabschreibung getätigt werden kann. Ein Rückgang der jetzt konjunkturbedingt hohen (und mehrwertsteuerbedingt noch überhöhten) Investitionsneigung — zusätzlich verstärkt durch die Erschwerung und Verteuerung der Kreditfinanzierung von Investitionen — könnte jedoch zu einer spürbaren Entspannung (nicht zuletzt im Engpaßbereich Bauwirtschaft) führen.

All das wäre dazu angetan, eine Ausgangssituation zu schaffen, in der die Ende November beschlossenen Bremsen durchaus genügen, jä vielleicht sogar etwas zu drastisch wirken und deshalb wieder gelockert werden müssen, damit sie das mit 4,8 bis 5 Prozent prognostizierte reale Wirtschaftswachstum und die Strukturanpassung an den 300-Mil-lionen-Markt nicht blockieren.

Regierung, Notenbank, Kreditapparat und Sozialpartner haben mit der Einigung auf ein umfassendes Stabilisierungspaket in elfter Stunde Vernunft bewiesen. Jetzt liegt es an den Anbietenden aller Stufen, mit einer disziplinierten Kalkulation, und an den Abnehmern aller Stufen — vor allem aber an den Konsumenten —, mit Preisbewußtsein und notfalls offenem Preiswiderstand ebensoviel Vernunft zu beweisen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung