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Sehnsucht & Tristesse

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Nur langsam und. mit Verzögerungen kommt es zur lang erwarteten Trendumkehr in der Wirtschaftsentwicklung der Reformländer Mittel- und Osteuropas. Am deutlichsten sind die Stabilisierungssignale in Polen.

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Nur langsam und. mit Verzögerungen kommt es zur lang erwarteten Trendumkehr in der Wirtschaftsentwicklung der Reformländer Mittel- und Osteuropas. Am deutlichsten sind die Stabilisierungssignale in Polen.

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Polens Budgetdefizit im ersten Halbjahr 1992 war bedeutend geringer als ursprünglich erwartet, die Inflationsrate konnte von 71 Prozent

1991 auf rund 41 Prozent im ersten Halbjahr 1992 reduziert werden und soll im Jahresdurchschnitt auf 35 Prozent sinken. Positive Signale gibt es auch im Bereich der Industrieproduktion. Nachdem in den letzten zwei Jahren alle Branchen Produktionseinbrüche hinnehmen mußten, erhöhten einige Bereiche von Jänner bis Juni

1992 ihre Produktion deutlich (Waschmaschinen plus 34 Prozent, Staubsauger plus 9,7 Prozent, PKW plus 13,8 Prozent, Reifen plus 15 Prozent et cetera). Da die Anzahl der Beschäftigten in der Industrie um 9,8 Prozent zurückging, erhöhte sich auch die Arbeitsproduktivität um 7,4 Prozent. Dennoch, im ersten Halbjahr fiel die Industrieproduktion um rund 3,1 Prozent, der Output in der Bauwirtschaft erhöhte sich jedoch um 4,6 Prozent.

Die Wirtschaft in Ungarn zeigt zwar noch nicht das erwartete Wachstum, das BIP, das 1991 um 10,1 Prozent schrumpfte, wird jedoch 1992 aller Voraussicht nach nur um drei bis vier Prozent zurückgehen. Die Inflationsrate Jänner bis August 1992 liegt bei 20,7 Prozent und damit am unteren Wert, der von der Regierung angepeilten Größe'(20 bis 25 Prozent). Der Exportboom setzt sich weiter fort (19 Prozent), während die Importe um 13,6 Prozent zurückgingen. Damit konnte Ungarn abermals einen Überschuß der Leistungsbilanz in der Höhe von 657 Millionen Dollar erwirtschaften. Gleichzeitig erhöhten sich die Nettozuflüsse an ausländischem Kapital um 641 Millionen Dollar.

Bedroht ist die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns durch das sich ausweitende Budgetdefizit, das für 1992, einer Schätzung des Finanzministeriums zufolge, auf 7,5 Prozent des BIPs ansteigen wird.

Für die (noch) CSFR ist drei Jahre nach der „sanften Revolution" das letzte Jahr ihres Bestehens eingeläutet worden. Die ökonomischen Spannungen zwischen Tschechen und Slowaken boten den nationalistischen Tendenzen reichen Nährboden. Auch in diesem Land gibt es im ersten Halbjahr 1992 Anzeichen, daß der freie Fall der Industrieproduktion sich nicht mehr ungebremst fortsetzen wird. Im Vergleich zum jeweiligen Vorquartal wuchs die Industrieproduktion in den ersten beiden Quartalen 1992 um 4,4 Prozent respektive 1,2 Prozent. Allerdings liegt die Industrieproduktion im ersten Halbjahr 1992 noch immer um 20 Prozent unter dem Wert für den Vergleichszeitraum des Vorjahres.

Auch im Außenhandel mit dem Westen ist das Land erfolgreich. Die Exporte erhöhten sich im ersten Halbjahr um 28 Prozent, der Handelsbilanzüberschuß stieg auf 366 Millionen Dollar, die Leistungsbilanz weist zu diesem Zeitpunkt einen Überschuß von 0,9 Milliarden Dollar auf.

Diese Silberstreifen am Konjunkturhimmel sind psychologisch wichtig, sie geben Zuversicht, daß die in Angriff genommenen Reformen nach drei wirtschaftlich bitteren Jahren doch zur ökonomischen Prosperität und politischer Stabilität führen könnten. Die anhaltenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten bieten bis dato jedoch einen reichen Nährboden für nationalistische und radikale Gruppen, die zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Neben dem ehemaligen Jugoslawien ist die CSFR am augenfälligsten davon betroffen, die mit 1. Jänner 1993, drei Jahre nach der „samtenen Revolution", zerfällt, wobei die Gefahr wächst, daß dieser Übergang nicht so friedlich verläuft wie gewünscht. In Ungarn kommt es verstärkt zu rechtsradikalen Tendenzen, in Polen ist die Regierungstätigkeit durch die Zersplitterung zahlreicher Parteien äußerst beschwerlich.

Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen in den Reformländern werden umso heftiger, je länger eine nachhaltige wirtschaftliche Trendumkehr auf sich warten läßt. Viele sehen bereits, daß es für sie persönlich in der neuen Gesellschaft auf Lebzeiten kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz geben wird. In allen drei Ländern droht die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren auf 15 bis 20 Prozent anzusteigen.

Diese sozial zunehmend triste Situation hat auf die politische Stabilität unmittelbare Rückwirkungen. Insofern verbirgt das sehnsüchtige Schielen nach ersten Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung jene Gefahrenmomente, die sich aus der sozialen Entwicklung ergeben. Dazu kommt, daß die Reformländer angehalten sind

SgaglBa „schön zu färben", wollen sie ihre Kreditwürdigkeit nicht selbst untergraben.

Während es zu Beginn der Reformen einfach schien, die politische Stabilität zu erreichen, und es den Anschein hatte, es bedürfe nur weniger, harter Jahre des Übergangs, um ein marktwirtschaftliches System aufzubauen und in der Folge eine positive wirtschaftliche Entwicklung zu erreichen, droht heute die wirtschaftliche und soziale Lage das bereits für erreicht und gesichert Geglaubte zu destabilisieren. Nicht wenige harte Jahre sind es, sondern das Leben einer ganzen Generation wird gefordert, nicht alle werden materiell gewinnen, sondern einige, womöglich jene, die auch bisher das Sagen hatten.

In dieser Gestalt steht Leviathan nicht nur vor der Tür der Reformländer, auch wir sind stärker betroffen, als wir es wahrhaben wollen.

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