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Sehr viel Praxis und ein bißchen Weise

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Zwei Frauen, beide in der zehnten Woche schwänger, beide gleich alt, beide in vergleichbaren sozialen Verhältnissen mit gleichem Zugang zu Kontrazeption. Ein Unterschied freilich besteht: Die eine Schwangerschaft ist erwünscht, die andere nicht. Jedenfalls nicht jetzt, nicht diese. Es hänge davon ab, ob alles Menschenmögliche getan wird, um die schwangere Frau schrittweise und liebevoll zur Geburt hinzufuhren oder ob das Ungeborene kurzerhand abgetrieben wird. So jedenfalls wurde es beim Symposium „Medizinsoziologische Aspekte der menschlichen Fortpflanzung“ der Gesellschaft für angewandte Sozialmedizin und Schwangerenhilfe unter der Leitung von Primarius Alfred Rockenschaub in Wien dargelegt.

Ein Interview in dem kürzlich bei Styria erschienenen Buch „Der Eingriff beschreibt den Tenor der Tagung treffend:1 Dort sagt ein Arzt: „Man muß ja ein wenig schizophren werden. In einem Zimmer redet man der Patientin ein, daß die geringfügige Unregelmäßigkeit des fötalen Herzens nicht wichtig ist, daß alles gut geht und sie ein liebes Baby haben wird; und dann macht man die Tür hinter sich zu, geht ins nächste Zimmer und versichert der Patientin, der man soeben eine Kochsalzinfusion verabreicht hat, daß das Herz des Kindes bereits unregelmäßig schlägt, daß sie sich keine Sorgen machen soll, daß sie kein lebendiges Kind haben wird.“

„Rooming-in“ ist die, sozusagen altmodische Art des Wochenbettes, wie sie vor der Technisierung der Medizin und der Hospitalisierung der Patienten praktiziert wurde. Geburt, ohne viel technische Apparaturen, wenn erwünscht, in Anwesenheit des Vaters, das Neugeborene verbleibt im Zimmer der Mutter und wird nicht, als Strizel verpackt, in einem Nebenzimmer deponiert.

Die Semmelweis-Klinik hat als erstes und, meines Wissens, bisher einziges Spital die Rooming-in Methode eingeführt. Sie findet - wohl zurecht - wieder Anklang bei den Müttern. Die Beschreibung der Vorteile dieser Methode für Wohlbefinden und Gesundheit von Mutter und Kind wurde verbunden mit harter Kritik an den medizinischen Technokraten, die die künstliche Einleitung der Geburt praktizieren, damit diese zu den Dienstzeiten des Personals stattfindet. Ebenso erfolgte eine scharfe Verurteilung der Schnittgeburten, die laut Vortragendem ein zehnmal so hohes Risiko wie eine normale Geburt darstellen, für das Kind nur

vermeintlich sicherer sind, aber rascher vonstatten gehen und viel mehr kosten.

Auch an beißender Kritik am Mutter-Kind Paß, dessen ärztlicherseits bescheinigte Untersuchungen keineswegs immer stattfinden und der außerdem zur irrigen Annahme verleitet, vier Untersuchungen vor der Geburt seien genug, fehlte es nicht.

Endlich wurde auch das ausgesprochen, was nur ein Befürworter der Fristenlösung sagen darf, ohne gesteinigt zu werden: Der wahre Grund, der von ministerieller Seite so stolz verkündete Senkung der Säuglingssterblichkeit, liegt nicht in der besseren gesundheitlichen Versorgung der Mutter, sondern in der Tatsache, daß viele Schwangerschaften, die Risikogeburten wären, bereits vorher abgebrochen werden. Sicher spielt auch die weit verbreitete Kontrazeption eine Rolle, meint Rockenschaub. Hoffentlich hat er recht.

Daß es mit der Kontrazeption und ihrer Verbreitung nicht ganz so klappt, wie man erhofft hatte, wurde durch Verschiedenes offenkundig. Einerseits fühlte man sich wieder einmal bemüßigt, an Hand vieler Tabellen und Statistiken zu beweisen, daß sowohl die Mortalitäts- als auch Morbiditätsrate bei Geburten unvergleichlich höher als bei Abbruchen liege. Lediglich eines wurde nicht erwähnt: daß die Mortalität der ungeborenen Kinder bei „erfolgreichen“ Abbruchen eben 100 Prozent beträgt.

In Menschlichkeit erging man sich eben nur am ersten Tag (rooming-in). Am zweiten Tag der Veranstaltung wurde sogar die Tatsache, daß in den USA von 1972 bis 1976 viereinhalb Millionen Abbruche registriert wurden, als Fortschritt der Menschheit präsentiert.

Anderseits merkt man jedoch an der Semmelweis Klinik, daß das Gesetz über die Fristenlösung nicht der Weisheit letzter Schluß ist. Nach wie vor sieht man zwar in der „nachsteuernden Geburtenkontrolle“ (wenn das nicht Orwells new-speack ist!) eine durchaus akzeptable Art der Geburtenregelung, aber, unter anderem wünscht sich nicht nur die Aktion Leben sondern auch ihr erklärter Gegner, Rockenschaub, eine Erhebung der Abtreibungsziffern, eine Trennung zwischen beratendem und abtreibendem Arzt und eine Durchführungsbestimmung, die Abbruche nicht mehr jedem Dr. med. gestattet, sondern nur dem einschlägigen Facharzt.

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