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„Seilziehen zwischen Extremen“

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Während die christdemokratischen und linkssozialistischen Parteigrößen noch keineswegs darüber einig sind, ob sie es zu einer neuen Links-Mitte-Regierung oder, im Verein mit den Liberalen, zu einer Koalition aller demokratischen Parteien kommen lassen wollen, steigen die Ehescheidungsgegner ihrerseits in den Kampf um die bald fällige Kabinettsbildung ein. Sie üben auf die Leitung der Democrazia Cristiana beträchtlichen Druck dahingehend aus, daß die Mehrheitspartei die längst fällige Volksabstimmung über das bestehende Ehescheidungsgesetz vom 1. Dezember 1970 ermöglichen soll. Bekanntlich haben vor 13 Monaten 1,3 Millionen Italiener ihre Unterschrift für das Referendum zur Abschaffung dieses Gesetzes abgegeben. Wäre die fünfte Legislatur nicht vorzeitig abgebrochen worden, hätte die Volksabstimmung bereits in diesem

Jahr, an einem Sonntag zwischen dem 15. April und dem 15. Juni, über die Bühne gehen müssen.

Nach den sechsten Parlamentswahlen der Nachkriegszeit befindet sich die Democrazia Cristiana somit in Sachen Ehescheidung noch mehr als vorher in einer Zwickmühle. Im neuen Parlament, das am 25. Mai zum ersten Male zusammentritt, verfügen somit die Anti-Scheidungs-Parteien — Christdemokraten und Neofaschisten — in beiden Häusern

— wieder über eine kleine, doch mehr als theoretische Mehrheit. Sie könnten also ohne weiteres das bestehende Ehescheidungsgesetz zu Fall bringen und auf diese Weise dem Land die Kulturkampfstimmung, die eine Auseinandersetzung über diese heikle Angelegenheit leicht mit sich bringt, ersparen. Zweifellos begrüßt der Vatikan eine solche Lösung, doch stößt sie ebenso sicher auf den hartnäckigen Widerstand sämtlicher sogenannter Laienparteien, von der KPI bis zu den Liberalen. Stellt die Democrazia Cristiana ihre Antischeidungshaltung einmal mehr über alle anderen Belange, so riskiert sie über kurz oder lang eine Entthronung, wie sie vor Jahren der CDU/CSU in Bonn, allerdings aus anderen Gründen, beschert war.

Politik der Erpressung

Was jetzt hinter den Kulissen vorgeht und vielleicht nur als fait accompli nach der feierlichen Eröffnung der sechsten Legislatur im Parlament zur Sprache kommen wird, läßt sich noch nicht absehen. Möglicherweise dient das resolute Vorgehen der Scheidungsgegner der Democrazia cristiana lediglich als Druckmittel, um bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung die Linkssozialisten zu vermehrten Zugeständnissen zu bewegen. Können die Christdemokraten nicht mehr, wie in sämtlichen bisherigen Legislaturen, die Linkssozialisten mit der Alternative einer Zentrumskoalition (mit den Liberalen) unter Druck setzen, so vermögen sie immer noch mit der Vorstellung einer Rechtsöffnung (einer Allianz mit den Neofaschisten zur Abschaffung des Scheidungsgesetzes) diese kleinzukriegen. Daß die Politik der Erpressung besonders viele Gefahren in sich birgt und daß bei einem solchen Seilziehen zwischen den Extremen Italiens Demokratie, nicht nur die Democrazia Cristiana, den kürzeren ziehen könnte, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Jedenfalls hat Mussolini vor 50 Jahren von einem solchen Spiel der demokratischen Parteien mit dem Feuer profitiert und auf dem Immobilismus eben dieser Parteien seine Herrschaft errichtet.

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