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Selber zahlen für Psychotherapie ?

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Zwei Untersuchungen ergaben: Das Psychotherapie-Angebot in Österreich ist viel zu gering, und vorschnell verallgemeinernde Psychotherapie-Kritiker behielten nicht recht.

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Zwei Untersuchungen ergaben: Das Psychotherapie-Angebot in Österreich ist viel zu gering, und vorschnell verallgemeinernde Psychotherapie-Kritiker behielten nicht recht.

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FURCHE: In welchem Verhältnis steht in Osterreich das Psychotherapie-Angebot zum Bedarf?

ELISABETH JANDL-JAGER: Es gibt keine Bedarfserhebungen.

FURCHE: Warum nicht?

JANDL: Weil sie nicht finanziert werden.

FURCHE:FehltdasGeldfürdie Erhebung - oder hat man Angst vor dem, was herauskommen könnte?

JANDL: Ich fürchte, vor letzterem - und zwar mit Grund. Solche Erhebungen sind natürlich aufwendig, aber es besteht auch immer die Gefahr, daß man einen Bedarf weckt.

FURCHE: Wie kommen jene, die ihren Bedarf entdecken könnten, heute zurecht?

JANDL: Schlecht. Irgendwie … Wenn wir Untersuchungen aus der Bundesrepublik zugrunde legen, haben etwa fünf Prozent der Bevölkerung einen Psychotherapiebedarf. Das wären in Osterreich 350.000 Personen. Nach unseren Erhebungen versorgt wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt 25.000, im Laufe eines Jahres 100.000 Patienten, demnach hätten wir 250.000 Menschen, die Psychotherapie brauchen würden und dafür auch motivierbar wären, sie aber nicht bekommen.

FURCHE: Sind jene, denen Psychotherapie zuteil wird, die mit dem höchsten Leidensdruck?

JANDL: Ich glaube, es gibt eine Dunkelziffer mit hohem Leidens-

druck. Wir haben bei unserer Untersuchung gesehen, daß Wien, Stadt Salzburg und das Land Vorarlberg ein verhältnismäßig gutes Versorgungsangebot haben. Wenn Sie das Unglück haben, außerhalb dieser Zentren zu leben, vielleicht im Burgenland, im nördlichen Nieder Österreich mit einer schlechten Verbindung nach Wien, dann ist es fast egal, welchen Leidensdruck Sie haben, Sie werden dort keine Versorgung ‘finden.

FURCHE: Wer fängt diese Menschen also auf?

JANDL: Wenn ich an meine Praxis am Institut für Tiefenpsychologie denke - wir haben dort de facto ein Einzugsgebiet von der tschechischen zur ungarischen Grenze, zum Wechsel und bis Am-stetten im Westen.

FURCHE: Wer trägt die Kosten?

JANDL: In Osterreich im wesentlichen mit gewissen Ausnahmen der Patient selbst. 90 Prozent des Psychotherapieangebots und der psychologischen Beratung werden in Institutionen angeboten, hier meist kostenlos oder gegen einen geringen Beitrag. Wenn jemand aber eine längere oder spezialisierte Behandlung braucht, zahlen die Krankenkassen einen bescheidenen Beitrag der Kosten bei einem niedergelassenen Psychiater, der über eine Psychotherapieausbildung verfügt, in Wien im Bereich von 189 Schilling pro Behandlungseinheit.

FURCHE: Den Rest zahlt der Patient auf? JANDL: Ja.

FURCHE: Wie läßt sich das mit dem Prinzip einer Versorgung im Krankheitsfall auf Versicherungsbasis vereinbaren?

JANDL: Meines Erachtens gar nicht. Aber wenn ich mir vor Augen halte, daß die Krankenkassen aus der Arbeiterbewegung entstanden sind, deren Ideologie es war: „Wenn die Arbeiter siegen, sind wir alle psychisch gesund“, ist klar, daß sie für Psychotherapie wenig Verständnis haben.

FURCHE: Und wenn das jemand einmal bis zum Obersten Gerichtshof durchkämpfen würde?

JANDL: Psychisch kranke Menschen sind dazu leider eher nicht in der Lage.

FURCHE: Übernimmt die Kasse auch bei nichtärztlichen Psychotherapien einen Kostenanteil?

JANDL: Ausschließlich bei ärztlicher Versorgung.

FURCHE: Ist die psychotherapeutische Versorgung durch den Nichtarzt gleichwertig mit der durch einen Arzt ohne spezielle psychotherapeutische Ausbildung?

JANDL: Mindestens! Die psychotherapeutische Versorgung wird in Osterreich zu 80 Prozent von Nichtärzten getragen.

FURCHE: Wird das Psychotherapeutengesetz eine Änderung bringen?

JANDL: Nicht unmittelbar. Unmittelbar werden wenigstens die nichtärztlichen Psychotherapeuten nicht mehr gegen das Gesetz verstoßen. Es gibt unterschiedliche Auffassungen, aber es gab Anzeigen wegen Kurpfuscherei gegen nichtärztliche Psychotherapeuten.

FURCHE: Würde denn wirklich ohne die nichtärztlichen Psychotherapeuten die Versorgung zusammenbrechen?

JANDL: Das würde es bedeuten. Es ist meines Erachtens höchste Zeit, eine Regelung zu finden, mit der alle Betroffenen leben können. Es geht jetzt in den Auseinandersetzungen um das Psy-

chotherapiegesetz um Fragen wie die, ob ein Patient von einem Arzt gesehen werden muß, bevor er eine Psychotherapie bei einem Nichtarzt beginnen darf, und ähnliches. Das geht eigentlich alles gegen den Patienten, es wird ihm der Zugang zur Behandlung er-

schwert. Ich sehe ein, daß die Krankenkassen die Kosten im Rahmen halten wollen.

Woran meines Erachtens aber niemand denkt, das sind die Folgekosten unbehandelter psychisch Kranker. Man muß doch auch fragen: Was bedeutet der Alkoholismus des Vaters für die Restfamilie? Entstehen nicht durch unbehandelte psychische Erkrankungen Langzeit-Arbeitslose?

FURCHE: Kennen Sie ausländische Modelle, die für uns anwendbar wären?

JANDL: In der Bundesrepublik, der Schweiz, in England, auch in den Ostblockstaaten werden die Behandlungskosten bezahlt. Aber ich brauche nicht ins Ausland zu gehen. Das Bundesland Vorarlberg hat eine Sonderlösung gefunden, bei der das Land die echten Kosten für Psychotherapie praktisch ohne Selbstbehalt refundiert, wobei auch private Kostenträger wie die Caritas beteiligt sind, die Beratungs- und Therapieeiru-ichtungen gegründet haben. An dieses Vorbild könnte man sich halten.

Elisabeth Jandl-Jager vom Institut für Tiefenpsychologie und Psychotherapie der Universität Wien leitete ein Arbeitsteam, das in mehrjähriger Arbeit einen Bericht über das Psychotherapie-Angebot in Osterreich erarbeitete. Mit mr sprach Hellmut Butterweck. PSYCHOTHERAPIE IN OSTERREICH -EINE EMPIRISCHE ANALYSE DER ANWENDUNG VON PSYCHOTHERAPIE von Corina Ahlers, Elisabeth Jandl-Jager, Gerhard Stumm, Germain Weber und Beatrix Wirth. Franz Deuticke, Wien 1988.208 Seiten, Pb., öS 198.-

PSYCHOTHERAPEUTISCHE VERSORGUNG IN OSTERREICH. Schriftenreihe des Instituts für Tiefenpsychologie und Psychotherapie der Universität Wien Nr. 7. Wien 1987.

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