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SELBSTBEHAUPTUNG GEHT AUCH ANDERS

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Regionalkonflikte haben die Globalkonfrontation abgelöst. Österreich steht vor neuen sicherheitspolitischen Aufgaben. Welches Heer brauchen wir? Eine schnelle Eingreiftruppe auf professioneller Basis oder ein Milizheer zur Raumverteidigung mit möglichst breiter Identifikation auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht? Ist die Mitte 1992 anlaufende Heeresreform ein erster Schritt in Richtung Berufsheer? Redaktionelle Gestaltung: Franz Gansrigier

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Regionalkonflikte haben die Globalkonfrontation abgelöst. Österreich steht vor neuen sicherheitspolitischen Aufgaben. Welches Heer brauchen wir? Eine schnelle Eingreiftruppe auf professioneller Basis oder ein Milizheer zur Raumverteidigung mit möglichst breiter Identifikation auf Basis der allgemeinen Wehrpflicht? Ist die Mitte 1992 anlaufende Heeresreform ein erster Schritt in Richtung Berufsheer? Redaktionelle Gestaltung: Franz Gansrigier

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Die offizielle Jacobsen-Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr in Deutschland kam zu dem Schluß, daß die allgemeine politische Begründung für die Beibehaltung der allgemeinen Wehrpflicht schwieriger und ihre gesellschaftliche Akzeptanz geringer geworden seien. Deshalb müsse rechtzeitig geprüft werden, ob nicht Freiwilligenstreitkräfte in langfristiger Perspektive an die Stelle der Wehrpflicht treten sollten.

Demgegenüber hält das Verteidigungsministerium in Österreich am verfassungsmäßigen Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht und des Milizsystems fest. Wie schon früher wird argumentiert, daß beide Elemente dem demokratischen System am angemessensten sind.

Da es aber an stichhaltigen Begründungen für diese ja keineswegs praktisch-militärisch, sondern demokratiepolitisch angelegte Aussage fehlt, ist die Gefahr gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen um dieses Thema abzusehen.

Eine breit angelegte Studie der Landes verteidigungsakademie analysiert das Verhältnis zwischen Demokratie und Wehrpflicht und geht von folgenden Arbeitshypothesen aus: □ Die Konzeption der Allgemeinen Wehrpflicht basiert ursprünglich auf revolutionären beziehungsweise radikalen Demokratietheorien. Ihre demokratiepolitische Rechtfertigung war nie unumstritten.

□ Gleichwohl hätten Kriegspflicht, Massenheer und Volkskrieg nicht ohne die Mitwirkung der Demokratie zustande kommen können. Die Praxis erwies sich hingegen als zwiespältig-

□ Die Allgemeine Wehrpflicht wurde unter vordemokratischen Umständen von einer freiheitlichen zu einer mehr egalitären Konzeption uminterpretiert. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurde sie seit dem 19. Jahrhundert desto rigoroser gehandhabt, je undemokratischer die jeweiligen politischen Systeme waren.

□ Wehrpflicht- wie auch Milizgedanken waren defensive Gegenentwürfe zu den stehenden Heeren des Absolutismus; sie sollten nach Erringung demokratischer Zustände diese zu verteidigen helfen. Historisch ist die Wehrpflicht jedoch weit häufiger für Angriffskriege mißbraucht worden. Tyrannen wie Napoleon, Hitler und Stalin hätten ohne Wehrpflicht niemals ihre Imperien erobern können; sie war Vorbedingung der Vergesellschaftung der extremsten Gewaltmittel des Staates zwecks Kriegsführung - des „totalen Krieges".

□ Damit wurde die Allgemeine Wehrpflicht häufig zum Mittel nationalistischer, militärischer, imperialistischer und totalitärer Machtpolitik und in der Folge nachhaltig entwertet.

□ Solange es eine Wehrpflicht gibt. ist sie auf Widerstand beim Volk gestoßen. Weder die Betroffenen noch die Bevölkerung wurden bei der Wiedereinführung der Allgemeinen Wehrpflicht unter demokratischen Systembedingungen darüber befragt. Vieles spricht jedoch dafür, daß sie - vorrangig unter Bedrohungsaspekten - nach einer Gewöhnungsphase mehrheitlich akzeptiert wurde.

□ Jüngste Akzeptanz Verluste der Allgemeinen Wehrpflicht hatten innere und äußere Ursachen; die wichtigste dürfte im einschneidenden Rückgang der Bedrohungswahmehmung beziehungsweise der faktischen Bedrohung durch entgegengesetzte Gesellschaftssysteme zu suchen sein: Je demokratischer die inneren und äußeren Bedingungen - auch: je mehr international bestehende demokratische Staatsgebilde bestehen -, desto unnötiger und damit schwerer argumentierbar ist die Aufrechterhaltung der Allgemeinen Wehrpflicht. Militärische Einsätze außerhalb des eigenen Territoriums sind mit ihrem ursprünglichen Geist unvereinbar.

□ Durch die Veränderungen und Erweiterung des Sicherheitsbegriffes ist die bewaffnete Verteidigung heutzutage weder die einzige noch die wichtigste Verkörperung des nationalen Willens zur Selbstbehauptung. Reduktionen, Verlagerung der Ressourcen, Bedeutungsgewinne anderer gesellschaftlicher beziehungsweise staatlicher Aufgabenstellungen wirken gegen die Wehrpflicht; sie ist weltanschaulich an das Konzept vom Nationalstaat gebunden.

□ Die Zunahme ziviler Aufgabenstellungen und Pflichten, Friedenssehnsucht und die Präferenz für nichtmilitärische Konfliktregelungsmuster sowie ökonomische und kulturelle Integrationsprozesse im internationalen Maßstab bewirken, daß der Wehrdienst immer weniger dazu beiträgt, staatsbürgerliche Identität zu vermitteln.

□ Wehrpflicht und Abrüstung passen ganz einfach nicht zusammen - je weniger Männer in den Kasernen lagen, desto geringer war die unmittelbare Gefahr für den Frieden und desto geringer waren auch die Lasten, die im Frieden auf dem Volk ruhten.

□ Beim Grundsatz der Freiwilligkeit war und ist es das Individuum selber, das bestimmt, ob es Soldat werden will oder nicht; im System der Wehrpflicht jedoch ist es der Staat, der darüber zu bestimmen hat. Trends zur Zurückdrängung von als entbehrlich angesehenen Staatseinflüssen sowie zur Individualisierung bewirken die zunehmende Ablehnung von staatlichen Zwangsmaßnahmen. Da es keinen Wehrpflichtstaat ohne die abstoßende, organisierte Staatsjagd auf Verweigerer und Deserteure gab, übertrifft das öffentliche Ansehen ziviler Dienstleistungen tendenziell jenes militärischer Dienste. Die individuelle Sinnfindung in Streitkräften wird schwieriger.

□ Viele Anzeichen sprechen dafür, daß sich die allgemeine Wehrpflicht nicht nur demokratiepolitisch und soziologisch, sondern auch ökonomisch nicht mehr rechnet.

□ Es gibt kein Wehrsystem, das allein der Demokratie angemessen wäre. Auch aus der Geschichte läßt sich eine besondere Affinität der Demokratie zur allgemeinen Wehrpflicht nicht ableiten. Die Motive für ihre Einführung variieren jeweils zeit- und umständebedingt, doch waren andere als demokratisch begründete Antriebskräfte stets ausschlaggebend.

Insgesamt berührt die allgemeine Wehrpflicht das sensible Spannungsfeld zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Freiwilligkeit und Zwang, zwischen Individualität und Kollektiv, zwischen Recht und Pflicht sowie zwischen selbstbestimmter und fremdbestimmter Tätigkeit; ethischmoralische Momente kommen seit jeher hinzu.

Es könnte sein, daß die Zeit dieser härtesten und oft folgenreichsten Pflicht, die ein demokratischer Staat seinen Bürgern abnötigen kann, sehr bald abläuft. Ein Europa der Demokratien wird sie schließlich auch nicht mehr militärisch begründen können.

Der Autor ist Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und Mitarbeiter der Landesverteidigungsakademie.

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