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Selbstbewußtsein statt Klassenkampf

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Wenn die Bischöfe die Katholiken ermahnen, ja, sie geradezu drängen, sich als Christen politisch zu bewähren, dann müssen die Bestrebungen gerade jener anerkannt werden, die sich seit Jahrzehnten bemühen, aus ihrer politischen Verantwortung heraus nach christlichen Grundsätzen zu handeln.

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Wenn die Bischöfe die Katholiken ermahnen, ja, sie geradezu drängen, sich als Christen politisch zu bewähren, dann müssen die Bestrebungen gerade jener anerkannt werden, die sich seit Jahrzehnten bemühen, aus ihrer politischen Verantwortung heraus nach christlichen Grundsätzen zu handeln.

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Die Kirche in österredoh hat sich schon seit langem einer tagespoliti-sdhen Partelnaihme bewußt enthalten. Gerade in einer Zeit, in der die Gesellschaft und die Menschen immer stärker von einem Dirigismus bedroht sind, in der die Menschen nur zu gerne bereit sind, Verant-wontung abzuschieben, scheint es dennoch hotwendig, immer wieder darauf hinzuweisen, daß eine Gesellschaft nur dann gesund ist, wenn

ihre Glieder bereit sind, Verantwortung zu tragen, wenn ein Mindestmaß von Solidarität in ihren Gliederungen vorhanden ist und wenn das, was die kleinere Gemeinschaft erfüllen kann,' nicht auf eine nächsthöhere Instanz, vor.allem nicht auf einen anonymen Apparat abgeschoben wenden darf.

Das betrifft nicht nur den Staat,

sondern auch die Kirche. Was wird da.nicht alles auf den Bischof, auf die Diözese abgeschoben, was das Dekanat, was nicht zuletzt die Pfarre machen könnte. Die Caritas etwa ist ja nicht nur eine zentrale Organisation — so notwendig das. auch ist. Die Hilfe für die alten, kranken, in Not geratenen Menschen ist primär Aufgabe der Pfarrgemeinde, der Gläubigen. Die Sorge für den Priesternaohwuchs kann

nicht nur Sorge des Bischofs sein, sondern muß die Sorge aller Gemeinden und Familien selbst sein. Und so gibt es noch eine Reihe von Beispielen.

Der Mensch ist heute vielfach bedroht. Hierzulande villeicht weniger von materieller als von geistiger Not, von Illusionen, von geheimen Verführern, die ihm einreden wol-

len, es-' wende immer so weitergehen1 und das-Leben werde immer besser, leichter,' proMemloser werden. Die' größte Gefahr, die größte Verführung, die größte Lüge'ist es, dem Mepschen einzureden, er könne tun und :lassen, was er wolle, es werde schon' nichts passieren, es werde schon keine Folgen haben. Gegen diese Verführung, gegen diese Lüge müssen alle zusammenstehen, denen am . Schicksal des Menschen etwas liegt. 'Alle politischen und geistigen Kräfte, die Parteien. ebenso wie die Kirche. Wir müssen dem Menschen immer wieder sagen: alles was du tust, hat Konsequenzen, hat. Folgen. Wenn wir beute Energie vergeuden, werden wir sie morgen nicht mehr haben. Wenn Wir heute die Umwelt verderben, wenden wir morgen in Schmutz >und Gestank leben. Wenn wir 'heute verschwenden, werden wir morgen darben.

Sie alle kennen das Schlagwort von der „Liebe ohne Folgen“. Dieses Wort scheint mir . charakteristisch für diese Einstellung überhaupt zu seiin. Wenn man versucht, es zu Ende zu denken, dann kommt man darauf, wie wahnwitzig es ist. Wenn alles, was der Mensch tut, seine Folgen hat, warum sollte dann gerade die Liebe, die größte seelische Macht, keine Folgen haben? Ich weiß -schon, daß hier nur eine ganz bestimmte Folge gemeint ist; aber der Mensch kann nicht nach seiner Willkür Folgen ausschließen. Eine Liebe, do'e den Menschen nicht verändert, nicht umformt, nicht bereichert, ist das noch eine Liebe?

Alles im Leben hat seine Konsequenzen. Alles ,im Leben hat seinen Preis. Der Österreicher hat den Hang, in Provisorien zu leben, ja er möchte gern überhaupt provisorisch leben. Einmal, sagt er sieh, einmal werde ich schon ernst machen, einmal werde ich mich verändern, einmal werde ich 'schon Ordnung machen und Verantwortung übernehmen — aber nicht jetzt, nicht sogleich. Aber kann man Verantwortung vor Sich herschieben? „Ihr, wißt weder den Tag noch die Stande“, -heißt es im Evangelium. Wer billig. kauft, kauft teuer, sagt der Voäfcsmund. Wer glaubt, billig leben.zu können, wind, vielleicht einmal teuer dafür bezahlen müssen. Auch der Christ, auch die Kirche ist von den Gefahren, vor den Versuchungen der Zeit nicht gefeit. Wer ein billiges Christentum anbietet, wird bald vor leeren Kirchen stehen. Wer ein billiges Christentum haben will, wind bald keines mehr haben.

Die Menschen sind heute mit Fortschritt und materiellem Wohlstand allein nicht zufrieden und damit auch nicht glücklich. Denn die Menschen sind hungrig nach Liebe, hungrig nach Freundschaft, hungrig nach Wahrheit und Erkenntnis, hungrig nach Gott und Glück. Wenn wir auch nicht dafür Verständnis haben und ihnen helfen, dann bleiben sie hungrig und gehen vor Hunger zugrunde, weil niemand sie liebt, weil niemand sie tröstet, niemand sie aus ihrer Einsamkeit erlöst und niemand ihnen den Weg zu Gott zeigt. Die Menschen sind haute mit

Fortschritt und materiellem Wohlstand allein nicht zufrieden und damit nicht glücklich. Die Sorge um die geistige Not, das Verständnis für seelische und geistige Werte ist auch eine politische Kraft. Wohlstand und Sicherheit für wichtiger halten als Wahrheit und Gewissen, hat ebenfalls Konsequenzen. Denn wie heüe ich die Verzweiflung so vieler junger und alter Menschen, die heute keinen' Sinn und Wert in ihrem Leben mehr sehen? Wir können auch nicht gleichgültig zusehen, wenn die Macht der Lügner die Wahrheit vernebelt, Begriffe verwirrt und alles zerredet, bis die Grenzen zwischen Gut und Böse schwinden.

Wer geistige Werte als Realität einschätzt, wer an Werte glaubt, besitzt in der Folge ein gesundes Selfotsbewußtsein, einen Selbstbehauptungswillen. Er spürt auch keine Notwendigkeit, das Selbstbewußtsein durch Klassenkampf zu ersetzen.

Wir haben das Gefühl, heute vor einer Wende zu stehen. In dieser Wende geht es um nichts weniger als um das Überleben der Menschen, allein schon um das physische Überleben. Aber vor allem um das geistige Überleben, um die Existenz des freien, verantwortungsbewußten Menschen, des Menschen, der nur dann Mensch ist, wenn er über sich selbst hiinausblickt, wenn er nicht vergißt, zu fragen: woher komme ich, wohin gehe' ich, wozu bin ich überhaupt da? Alle, die den Menschen ndcht das Fragen, nicht das Denken abgewöhnen wollen, müssen hier in einer Front stehen. Ich glaube, wir alle, Sie und ich, stehen in dieser Front. Wir wollen aber nicht allein stehen, sondern alle einladen, die wie wir Sorge um diese Menschen haben.

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