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Selbstdarstellung der Feinde

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Einerseits ist der Zweite Weltkrieg zeitgeschichtlich nahezu total abgegrast, werden die Dissertanten auf immer kleinere Mosaiksteinchen des Geschehens angesetzt, würde mancher wohl das Auffinden eines wirklich großen, wichtigen, unerschlossenen Zweiter-Weltkrieg-Themas überhaupt nicht mehr für möglich halten. Anderseits aber wird eben einem solchen aus auf den ersten Blick unerfindlichen Gründen allenthalben im weiten Bogen aus dem Weg gegangen. Nämlich dem Gebrauch, den die Kriegführenden von einem der wichtigsten Instrumente der psychologischen Kriegführung machten: dem Flugblatt.

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Einerseits ist der Zweite Weltkrieg zeitgeschichtlich nahezu total abgegrast, werden die Dissertanten auf immer kleinere Mosaiksteinchen des Geschehens angesetzt, würde mancher wohl das Auffinden eines wirklich großen, wichtigen, unerschlossenen Zweiter-Weltkrieg-Themas überhaupt nicht mehr für möglich halten. Anderseits aber wird eben einem solchen aus auf den ersten Blick unerfindlichen Gründen allenthalben im weiten Bogen aus dem Weg gegangen. Nämlich dem Gebrauch, den die Kriegführenden von einem der wichtigsten Instrumente der psychologischen Kriegführung machten: dem Flugblatt.

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Flugblätter und Rundfunksendungen waren die Medien, mit denen die Kriegführenden die feindliche Zivilbevölkerung erreichen konnten. Rundfunksendungen hatten dabei den Nachteil, daß sie nur von solchen Personen gehört wurden, die sie hören wollten, die demnach der eigenen Regierung gegenüber bereits eine kritische Haltung einnahmen und zumindest auf deutscher Seite ein erhebliches Risiko eingingen, denn „Feindhören“ konnte mit dem Tod bestraft werden. Für Wehrmachtangehörige war das Abhören feindlicher Rundfunksendungen aus naheliegenden Gründen noch schwieriger.

Das Flugblatt hatte demgegenüber den Vorteil, auch solche Menschen zu erreichen, die zunächst gar nicht die Absicht hatten, „Feindpropaganda“ zur Kenntnis zu nehmen. Jedes mit Flugzeugen erreichbare feindliche Territorium konnte auch mit Flugblättern erreicht werden. Alle kriegführenden Mächte erkannten die Bedeutung dieses Propagandamediums und setzten es im größten Maßstab ein, aber die alliierte Luftüberlegenheit führte selbstverständlich auch zu einer angloamerikanisChen Vorherrschaft im Flugblattkrieg.

Auch vom Standpunkt des Zeitgeschichtlers hat das Flugblatt gegenüber der Rundfunksendung einen gewaltigen Vorteil Die psychologische

Kriegführung mit Rundfunksendungen ist heute nur noch in geringem Ausmaß rekonstruierbar. Flugblätter haben sich hingegen in erheblicher Zahl erhalten. Sie sind heute die wichtigste Primärquelle zur Erforschung der psychologischen Kriegführung im Zweiten (und zum Teil auch schon im Ersten) Weltkrieg.

Psychologische Kriegführung aber ist mehr als ein abseitiges zeitgeschichtliches Spezialthema unter vielen anderen. Die Erforschung der psychologischen Kriegführung führt nicht nur zu Aussagen darüber, welche Mittel man für geeignet hielt, Men-

sehen „auf der anderen Seite“ zu beeinflussen, und allenfalls vielleicht auch darüber, was auf diese Weise erreicht wurde. Flugblätter sind vor allem deshalb eine wesentliche Primärquelle zur Erforschung psychologischer Prozesse im Krieg, weil sie Medium der (nur zum Teil bewußten, zu einem wesentlichen Teil unbewußten) Selbstdarstellung gegenüber dem Feind waren. Sie sind von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Propaganda und der Massenbeeinflussung - und der Psychologie kriegführender Völker. Sie sollten zum Gegenstand interdisziplinärer Untersuchungen durch Zeitgeschichte und Psychologie gemacht werden.

In der Praxis wurde allerdings bisher nicht einmal die Erschließung und Systematisierung der Primärquellen, nämlich der erhaltenen Flugblätter, in Angriff genommen. Die „Flugblattsammlungen“ der meisten (zumindest der deutschsprachigen) zeitgeschichtlichen Institute, der Archive und so weiter, sind ungeordnet, die Bestände schlummern in Schachteln und Laden, denen man, wohl wegen der mit der Systematisierung, verbundenen Probleme, geflissentlich aus dem Wege geht.

Denn dem Gold möglicher psychologisch-historischer Erkenntnisse unmittelbar benachbart schlummert hier die Gefahr blamabler Fehlidenti-

fizierungen und Fehlschlüsse. Der Flugblattkrieg wurde ja nur zum Teil mit offenem Visier geführt. Nur bei einem Teil der Flugblätter handelt es sich um „weiße“, regierungsamtliche Propaganda, daneben führten selbstverständlich die Geheimdienste ihren eigenen Flugblattkrieg und viele Flugblätter tragen gefälschte Herkunftsbezeichnungen. Nur die zurückbehaltenen Belegstücke der „weißen“ Flugblätter britischer und amerikanischer Herkunft sind in den Archiven dieser Staaten einsehbar -soweit sie nicht unter Kriegsbedingungen in Verlust gegangen sind. In

der Sowjetunion herrscht selbstverständlich totale Archivsperre, die deutschen Unterlagen über den eigenen Flugblattkrieg sind verlorengegangen. Die Hauptstütze für die Untersuchung des Flugblattkrieges durch die Forschung bleiben daher tatsächlich abgeworfene Exemplare, die den Krieg überdauert haben.

Solch ungünstige Voraussetzungen erklären die Zurückhaltung der etablierten Forschung, nicht aber die allgemein desinteressierte Haltung gegenüber der Arbeit eines Außenseiters, der der Forschung die bislang versäumte Arbeit abnimmt. Ich spreche vom totalen buchhändlerischen Mißerfolg einer auf nunmehr drei stattliche Bände angewachsenen Edition britischer und amerikanischer, über Deutschland und Österreich abgeworfener Flugblätter, die nur als Geschenk ihres Verfassers den Weg in Bibliotheken und Institute findet; die Zahl der verkauften Exemplare ist verschwindend, sie ist zweistellig!

Dabei handelt es sich hier um einen jener seltenen Glücksfälle, in denen ein Außenseiter, ein Dilettant im besten, im Friedell'schen Sinne, an einem Thema Feuer fängt und sich bei einer Forschungstätigkeit auf eigene Faust wissenschaftliche Qualifikation erwirbt. Der Erlangener Bauunternehmer Klaus Kirchner (Erlangen, Luitpoldstraße 58) ist ein Mann dieser Sorte: sicher ein Original, sicher ein monomanisch von seinem Thema Eingefangener, aber ebenso ein seriöser, systematischer Forscher, und vor allem ein äußerst großzügiger Mäzen einer als notwendig erkannten, zeitgeschichtlichen Basisarbeit.

Eine Reihe von im Krieg aufgelesenen alliierten Flugblättern löste sehr viel später eine Sammeltätigkeit aus, die Kirchner aber weit hinter sich gelassen hat: Es geht ihm längst nicht mehr um den Besitz der Exemplare, sondern um die Erfassung der in den verschiedenen Instituten, Bibliothe-

ken und Archiven vorhandenen Bestände, und um die Publikation von Flugblattserien gesicherter Herkunft. Es ist ihm zu verdanken, wenn die regierungsamtliche Flugblattpropaganda Englands und der USA an Hand fortlaufender Flugblattserien der Jahre 1939 bis 1941 (Band 1, England, im Erscheinen begriffen) und 1942 (Band 4, England, erschienen) sowie der Jahre 1943 und 1944 (Band 6, USA, erschienen) studiert werden kann. Das bedeutet nicht Komplettheit des gesamten in diesen Zeiträumen abgeworfenen Materials, sehr wohl aber Vorlage kompletter t Flugblattserien

mit laufender Numerierung, demnach in chronologischer Ordnung. Material, auf das man sich verlassen, das man studieren, auf das man Deutungen aufbauen kann. Das bedeutet einen doch ziemlich breiten Weg durch weißes, unerforschtes Gebiet der Zeitgeschichte, denn die im Faksimile abgedruckten Serien sind in den Archiven ihrer Herkunftsländer nur noch unvollständig erhalten.

Immer wieder tauchen Flugblätter auf - im Handel, auf Sammlerbörsen, Flohmärkten und so weiter, und immer wieder sind darunter bisher unbekannt gebliebene Blätter. Es gibt aber auch nach wie vor Geländefunde - freilich nicht von Einzelblättern, die sind längst verrottet, aber von nicht explodierten Flugblattbomben und Flugblattgranaten. So kam vor kurzem in der Bundesrepublik eine Flugblattbombe mit ursprünglich 15.000 Aufforderungen zur Ubergabe einer deutschen Stadt aus der letzten Kriegsphase zum Vorschein, adressiert „An den Bürgermeister“. Das Blatt war bisher ebenfalls unbekannt, ist freilich eines von vielen ähnlichen und hat als taktische „Frontdrucksache“ nicht die Aussagekraft der im strategischen Propagandakrieg eingesetzten, auf langfristige Wirkung angelegten Flugblattpropaganda.

Insgesamt wurden im Zweiten Weltkrieg über Europa schätzungsweise 16 Milliarden Flugblätter abgeworfen, allein von der britischen Regierung im Jahr 1942 in Europa 314, für das Dritte Reich 145 Millionen, davon 20 Millionen durch Ballons, und durch Flugzeuge 125 Millionen. Die über dem Deutschen Reich (einschließlich Österreichs) zwischen 28. Juli 1943 und 30. September 1944 abgeworfenen Flugblätter mit der Kennzeichnung „USG“ (United States - Germany) und fortlaufender Nummerierung bis USG 53 (wobei aber einige Nummern ausfielen oder nicht nachgewiesen werden können) erreichten eine Auf-

lagenhöhe von insgesamt 180 Millionen. Die Streuverluste waren gewaltig - ein großer Teil der Flugblätter flatterte in unbewohntes Gelände, viele wurden durch fehlerhaftes Funktionieren der in die Flugblattbomben (Fassungsvermögen bis zu 100.000 Stück) eingebauten Zünder zu weit oder zu eng gestreut, viele gingen in Blindgängern verloren (und überdauerten unter Wasser zum Teil bis heute in oft hervorragendem Zustand), und eine Menge Flugblätter wurde von der zu Sammelaktionen abkommandierten Hitlerjugend sichergestellt, bevor sie die Bevölkerung erreichten (aller-

dings legten manche dieser Hitlerjungen Flugblattsammlungen an). Die erhaltenen Flugblätter zeigen oft ein regelmäßiges Knittermuster (wenn sie von einer Treibladung aus einer Flugblattgranate ausgestoßen wurden), sind oft zerrissen und verschmutzt, tragen oft noch die Spuren vielfältigen Zusammenlegens und In-der-Briefta-sche-Versteckens.

Sie sind oft graphisch sorgfältig gestaltet, oft aber auch unsagbar primitiv. Es sind meist einfache Blätter, mitunter aber auch ganze Broschüren. Hervorragendes Beispiel für hochgestochen-intellektuelle psychologische Kriegsführung: Die 1942 abgeworfene englische Broschüre „Die andere Seite“ mit Aufsätzen von Sigrid Undset („Norweger und Deutsche“), Thomas Mann („Nachruf auf einen Henker“, nämlich auf Heydrich), mit lobenden Worten von G. B. Shaw über Stalin, Photos und so fort. Zeitweise, vor allem in der Spätphase des Krieges, warfen alliierte Maschinen täglich eigene Zeitungen für Deutschland ab, in täglichen Ausgaben (!), die Amerikaner das „Sternenbanner“, die Engländer ein Blatt namens „Luftpost“, und zu den objektivsten Untersuchungen über den psychologischen Krieg zählen Umfragen amerikanischer Meinungsforscher unter deutschen Kriegsgefangenen, deren Reaktion auf diese Zeitungen (in Blindversuchen!) getestet wurde. Das viel geschickter gemachte „Sternenbanner“ kam wesentlich besser an.

Die meisten Flugblätter nahmen „Großdeutschland“ als ganzes, manche wendeten sich gezielt an die österreichische Bevölkerung. Viele der abgeworfenen Drucksachen hatten tarnende Titelblätter - waren als Re-clam-Broschüren oder als „Völkischer Beobachter“ aufgemacht. Und oft tragen sie heute den handschriftlichen Vermerk „Feinpropaganda“ - Selbstschutz des Finders, der sie aufbewahrte.

Ein weites Feld ist der Flugblattkrieg, und zu einem guten Teil zeitgeschichtliche Terra incognita. Einem Einzelgänger, einem Nicht-Akademiker, einem Bauunternehmer gelang es, dieses unerschlossene Gebiet erstmals, insgesamt grob und in einigen

Bereichen bereits sehr genau, zu kar-tographieren (seine Dokumentationsbände enthalten ausführliche Apparate, Varianten bekannter Flugblätter usw.). Seine Leistung würde es verdienen, zur Kenntnis genommen und gewürdigt zu werden - denn zeitgeschichtliche Grundlagenforschung im Alleingang ist nicht alltäglich, die Publikation solcher Forschungen in einem aufwendig gestalteten, vielbändigen, reich ausgestatteten Werk aber, auf eigene Kosten, bedeutet das Opfer eines engagierten Privatmannes an die Wissenschaft.

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